Schlafen nicht möglich

Ich rolle meine Jacke zusammen und strecke mich auf einer krummen Bank aus. Ich befinde mich auf der Galerie im zweiten Stock des Leningrader Bahnhofs.
Im ersten Stock ist es eindeutig kälter. Bekanntlich steigt warme Luft auf, und in diesem Fall steigen auch die dumpfen und unangenehm warmen Gerüche des Wartesaals auf. Immerhin ist es wesentlich einfacher, sich auf der Galerie zu bewegen als im überfüllten Wartesaal, wo sich die Obdachlosen auf acht Bänken aneinanderdrängen müssen, schreibt Nora, unsere Journalistin von der Nowaja Gaseta.

Trauriges gemeinsames Schicksal
Nora ist auf Bitte von Nochlecka in die Welt der Obdachlosen eingetaucht, die sich am Platz der drei Bahnhöfe in Moskau befindet. Die letzten Wochen hat sie uns zahlreiche Portraits von Obdachlosen gezeichnet, die hier in der Nähe der Eisenbahnen gelandet sind, und uns von ganz unterschiedlichen Schicksalen erzählt.
Viktor Petrowitsch, ein Grossväterchen, das von seiner Familie betrogen worden ist, Baba Arina, eine notorische Trinkerin, die verzweifelt versucht, vom Alkohol wegzukommen, Nina, eine Zeugin des schrecklichen Dramas, das die Ukraine von beiden Seiten der Front trifft, die redselige Khadycha, die aus dem Bürgerkrieg in Tadschikistan und aus einer arrangierten Ehe geflohen ist, Vera und Andrej, die am Jarosavler Bahnhof leben und Bücher und Fernsehserien lieben und schliesslich Slava, der offensichtlich ein bisschen zum Fabulieren neigt.

Eine Reihe von Persönlichkeiten, die uns zeigen, wie leicht es in Russland ist, obdachlos und papierlos zu werden, da für alle, die ihre Propiska verloren haben, soziale Auffangnetze völlig fehlen.

Die unbequeme Lage ist beabsichtigt.
Vom Bahnhof aus, wo ihre Studie ihren Anfang nahm, erzählt uns die Journalistin der Nowaja Gaseta, heute, wie sie die Nacht in Gesellschaft der Obdachlosen verbrachte und zu schlafen versuchte.
Ich verstehe jetzt, warum die neuen Bänke aus lackiertem Holz eine so seltsame Form haben, abgerundet und gebogen. So ist es schwierig, darauf zu schlafen, sagt Nora.
Tatsächlich werden sowohl in Russland als auch in Europa im öffentlichen Raum aufgestellte Bänke absichtlich so unbequem gebaut, dass ein Obdachloser sich darauf nicht ausruhen kann.
Als Kissen schiebe ich meinen Schlafsack unter den Kopf und lege mich dorthin, wo die Bänke zusammenkommen, im Raum zwischen den beiden Armlehnen. Es ist nicht einfach, so einzuschlafen.
Hinter mir hören zwei Obdachlose kaukasische Popmusik, der Mann auf der Bank nebenan schnarcht laut, ein anderer hustet so stark, dass die Bank zittert.
Es ist unmöglich, die Augen zu schliessen. Ich friere und gehe wieder zum Hauptwartesaal.

Ein lärmiges «Schlafzimmer»
Aus irgendeinem Grund wird der Soundtrack von «Twin Peaks» in voller Lautstärke über die Lautsprecher gesendet. Die Musik wird immer wieder unterbrochen durch Ansagen zur Abfahrt oder Ankunft von Zügen. Im Minutentakt werden wir über den Zugsverkehr informiert, da die elektronische Anzeige des Bahnhofs kaputt ist.
Das Hauptproblem beim Schlafen ist aber die Bahnhofsreinigung. Zweimal pro Nacht wird alles gereinigt: das erste Mal um ein Uhr nachts, das zweite Mal um sechs Uhr morgens. Um ein Uhr war ich noch wach, um sechs Uhr war ich eingedöst. Die Rufe des Wachmanns haben mich geweckt.
Reinigung, Reinigung, alle raus!
Wir gehen alle zusammen zum Fahrkartenschalter.

Der Wartesaal hat sich komplett geleert, aber wenn man seine Fahrkarte zeigt, darf man sich auf der Galerie des zweiten Stocks niederlassen. Ich wäre besser dort geblieben.

Eine Nacht ohne Erholung
Die Obdachlosen stehen Schlange im Erdgeschoss beim Ausgang. Es ist sehr kalt und es gibt keine Heizung. Ein Obdachloser beruhigt mich:
«Das ist nicht so schlimm, in einer Stunde wird die Reinigung gemacht sein und Sie können wieder in den Wartesaal zurückgehen.»
«Was für ein Chaos », schreit ein alter Mann mit einem langen, grauen Bart. «Wir müssen dem Trampel von Putzmann eine Lektion erteilen.» Der Alte wird wütend. «Ich töte ihn, diesen Lump!»
Zwei Polizisten beruhigen ihn schnell.
Es ist jeden Tag das Gleiche. Alle Leute müssen den Wartesaal verlassen. Der alte Mann zeigt beleidigt mit dem Finger auf die zwei Polizisten, nachdem einer der beiden ihn energisch auf den Arm geschlagen hat.

Um sieben Uhr ist die Reinigung zu Ende. Ich kehre in den Wartesaal zurück, und gehe anschliessend in den zweiten Stock. Ich bin erschöpft und kann endlich schlafen, aber nicht für lange. Einmal pro Stunde kommt die Polizei rein, geht durch die Reihen, fragt, wer wohin fahre, und fordert uns auf, die Füsse von der Bank zu nehmen. Ich schwinge meine Beine zum Schein nach unten, dann mache ich es mir wieder bequem bis zur nächsten Kontrolle.
Es ist nicht leicht, sich an einem solchen Ort auszuruhen. Deshalb verstehe ich, dass Obdachlose, die ein wenig Geld haben, das günstigste Billett kaufen, um einen Zug zu nehmen und so mehr oder weniger in Ruhe und an der Wärme die Nacht verbringen zu können.
Es ist neun Uhr und ich bin jetzt an der frischen Luft. Ich habe Mühe, einen klaren Kopf zu bekommen, da ich so müde bin. Und dann stelle ich mir vor, dass ein solches Martyrium für aberhunderte von Obdachlosen, Frauen und Männer, zum Alltag gehört. Ein weiterer Tag, den es zu überleben gilt, wartet auf sie.
Das ist doch bewundernswert.

In Russland ist Nochlechka eine der seltenen NGO, die den obdachlosen Sans-Papiers zu Hilfe kommt.
Danke, dass sie uns weiterhin unterstützen. Unsere Aufgabe ist riesig. Wir retten Leben.

Wichtig: Trotz des Boykotts der Banken kann unsere finanzielle Hilfe fortgesetzt werden.

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