Der seltsame Herr Slava

Manchmal spaziert er mit einem komischen Damenhut umher. Ich finde das sehr merkwürdig. Wenn jemand am Leningrader Bahnhof nicht mehr der Normalität entspricht, sondern ein derart sonderbares Verhalten entwickelt, bedeutet es, dass er sich gut in die Welt der Randständigen, der obdachlosen Sans-Papiers integriert hat, die an diesem Ort leben. Das erklärt mir allen Ernstes Sascha, einer von diesen Obdachlosen.
Sascha spricht über Slava, der seiner Meinung nach ein Original ist, schreibt Nora, die Journalistin der Nowaja Gaseta, welche auf Bitte von Nochlechka in die Welt der Obdachlosen eingetaucht ist, am Platz der drei Bahnhöfe in Moskau.

Wie ein Springteufel aus der Kiste
Plötzlich kommt Slava aus seiner Ecke hervor, wo er vor sich hinzudösen schien.
«Wo wohnst du?», fragt ihn Nora.
«Im Wartesaal.»
«Verfolgen sie dich?»
«Stelle keine dummen und nutzlosen Fragen, komm mit uns und benimm dich, wie wenn du zu uns gehören würdest. Du wirst es am ganzen Körper spüren, was es heisst, obdachlos zu sein.»

Nach seinen eigenen Aussagen ist Slava in einer Dissidentenfamilie in Akademgorodok aufgewachsen, einem Stadtteil von Nowosibirsk. Mit 15 Jahren weigerte er sich, in den Komsomol einzutreten. Nach seinem Diplomabschluss an der chemischen Fakultät unterrichtete er an der Universität.
Slava sagt, dass er in den letzten 30 Jahren einen innovativen Betrieb im Bereich Risikokapital geleitet habe, der medizinische Einrichtungen entwickelte und für diese Einrichtungen Patente verkaufte. Er sagt auch, dass seine letzte Erfindung eine kabellose Maus gewesen sei, die ohne Batterien funktioniere. Ich muss mich beschäftigen, mich mit einem Problem befassen. Dann gibt mir mein Gehirn von selbst die Lösung, mitten in der Nacht. Ich muss sie nur noch aufschreiben, beteuert er ganz stolz.
Vor einem Jahr hat der Geliebte meiner Frau versucht, mich zu ermorden, um sich meine Wohnung unter den Nagel zu reissen.
Seither lebe ich hier am Bahnhof.

Das besetzte Haus, das es nicht gibt.
Heute will Slava die Nacht nicht am Bahnhof verbringen. Er habe kürzlich ein Zimmer in einem unbewohnten Gebäude gefunden, das zu Fuss nur fünf Minuten entfernt sei. Ich habe eine Matratze aufgetrieben, einen Gasofen und einen Laptop, sagt er zu mir. Er ist verärgert, denn keiner von seinen Leidensgenossen will mit ihm dort einziehen.
Wir könnten uns die Heizkosten teilen und Geld sparen, um nicht mehr auf der Strasse leben zu müssen.
Aber ist ja egal, wir werden ohnehin bald sterben, fügt er an.

Die Verteilung
Es ist bereits fünf Uhr, das heisst, dass hinter dem Jaroslavler Bahnhof bald das Essen verteilt wird, ruft Slava aus.
Viktor Petrowitsch, der sich unserem Grüppchen angeschlossen hat, führt uns durch unterirdische Gänge, die ich vorher noch nicht gekannt habe. Merkwürdigerweise befinden wir uns plötzlich in der Eingangshalle der Metro, die wir durchqueren müssen. So sind wir nicht dem schlechten Wetter ausgesetzt, erklärt Viktor Petrowitsch.
Als wir aus der Passage rauskommen, befinden wir uns auf einem unbebauten Gelände, wo wir uns einer eng zusammenstehenden Menge Obdachloser anschliessen.
Der Nachtbus von Nochlechka ist hier. Die Freiwilligen verteilen Lebensmittel und Tee.
Ein Mann von eindrücklicher Gestalt, sicher mehr als zwei Meter gross, spricht mich an, als er erfährt, dass ich Journalistin bin. Seine sonore Bassstimme, die einem Opernsänger gut anstehen würde, hallt in meinen Ohren.

Ein riskantes Gespräch
Schreiben Sie, dass das Problem auf staatlicher Ebene zu lösen ist ? Die Obdachlosigkeit ist ein gesellschaftliches Problem, das vor die Duma gebracht werden muss. Man muss jeden Oligarchen dazu verpflichten, uns ein Prozent seines Einkommens zu überlassen.
Pst, sei doch still!, befiehlt ihm Slava flüsternd. Du hast es noch nicht begriffen. Wenn du das Thema ansprichst, werden sie dich auf den Kopf schlagen.
Es macht mir Angst, murmelt Slava. Du willst doch kein Regimegegner sein, nicht wahr?
Schnell wechseln wir das Thema und sprechen vom Bus, der jede Nacht zur Brache kommt. Die Leute leiden sehr, aber der Bus bringt uns eine warme Mahlzeit, bemerkt Slava. Wunderbar, sagt einer aus der Gruppe voller Hohn.
Die Menschenmenge löst sich rasch auf, nachdem alle gesättigt sind. Ausserdem wurden auch warme Kleider verteilt, schreibt unsere Journalistin.

Eine fatale literarische Inspiration
Als wir zurück zur Wartehalle gehen, erzählt Slava weiter aus seinem Leben. Vor 30 Jahren leitete ich eine Werkstatt, die keimtötende Strahler produzierte. Dort habe ich meine Frau kennengelernt. Sie war auf der Suche nach Arbeit und hatte drei hungrige Kinder zu ernähren. Ich hatte Mitleid mit ihr und ihren Kleinen und habe sie geheiratet.
Das war eine völlig verrückte Entscheidung. Genauso gut hätte ich meinen Kopf unter die Räder einer Lokomotive legen können.
Die russische Literatur hat mein Leben ruiniert. Der Roman «Auferstehung» von Leo Tolstoi hat mich zur Heirat inspiriert, die Geschichte jenes Mannes, der versucht, eine gefallene Frau zu retten. Wie wenn man aus einem Hund ein ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft machen könnte.
Ich hätte schon in meiner Jugend Balzac lesen sollen, dann hätte ich nicht so unüberlegt geheiratet. Balzac schreibt in diesem Zusammenhang: «Versuchen Sie nicht etwas zu ändern, das Sie nicht ändern können.»

Die Schlafstunde
Der Wartesaal ist eine grosse, langgezogene Halle. Der Geruch von kaltem Tabak und altem Urin vermischt sich mit der Feuchtigkeit, abgesondert von den Dutzenden von Leuten, die auf den langen Bänken nebeneinandersitzen.
Die Zeiger der grossen Uhr gehen auf Mitternacht zu.
Die Obdachlosen drängen sich in einem schwach beleuchteten Teil der Halle zusammen. Einer von ihnen lässt Zigarrenasche auf den Boden fallen.
«Gehen wir jetzt nicht in das Zimmer, das du ausfindig gemacht hast?», fragt die Journalistin Slava.
Nein, warum auch? Hier ist es doch gut. Es ist Zeit zum Schlafen.

Nächste Woche wird Nora, unsere Journalistin, uns von dieser Nacht erzählen, die sie im Bahnhof verbracht hat. Damit werden wir die Serie der Reportagen abschliessen.

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