Viktor, der Betrogene

Er sieht aus wie ein Sechzigjähriger, aber er ist 87. Es ist oft sehr schwierig, das Alter eines Obdachlosen zu schätzen.
Ich kehre zum Leningrader Bahnhof zurück und steige wieder ins erste Untergeschoss hinab, wo ich Viktor Petrowitsch treffe, ein Grossväterchen mit einem spitzen Bärtchen, kleinen Äuglein und eingefallenen Wangen. Das schreibt Nora, die Journalistin der Nowaja Gaseta.
Auf Ersuchen von Nochlechka ist Nora in die Welt der Obdachlosen eingetaucht, die um den Platz der drei Bahnhöfe leben. Nachdem uns die Journalistin von Grossmutter Arina, von Nina, einem Kriegsopfer, von der redseligen Khadycha und von Vera mit den Hirnverletzungen erzählt hat, liefert sie uns heute eine Beschreibung von Viktor Petrowitsch.

Nora erzählt: Wir sprechen in einer Ecke beim Lift. Hier ist die Temperatur wenigstens noch erträglich. Denn im Untergeschoss ist es kalt. Der Ort hier ist der einzige, an dem die Heizung funktioniert. Dazu kommt noch, dass er vom Gang abgeschlossen ist mit durchsichtigen Fiberglaswänden, wodurch eine Art Triebhauseffekt entsteht.

Rausgeworfen
– Warum sind Sie hier, Viktor Petrowitsch?
Vor einigen Jahren hatte ich eine Herzoperation. Nachdem ich das Spital verlassen hatte, ging ich nach Hause und musste dort feststellen, dass die Wohnung versiegelt war.
Ja, versiegelt. Es stellte sich heraus, dass mein Neffe sie zu verkaufen versuchte, während ich im Spital lag. Seither verfolge ich meinen Neffen gerichtlich und als Wohnort bleibt mir nur der Leningrader Bahnhof.

Die Erdbeerernte
Im Sommer arbeite ich auf dem staatlichen Bauernhof «Lenin», wo ich Erdbeeren pflücke. Ich schlafe dort und werde in Naturalien entlöhnt. Das heisst, ich erhalte 10% dessen, was ich ernte. Natürlich muss ich mich bemühen, «meine» Erdbeeren zu verkaufen. Jeden Tag trage ich 6 Kilo Beeren auf den Markt und verkaufe sie dort. Das ist hart, aber die Einkünfte sind in Ordnung, 5’000 bis 7’000 Rubel pro Tag, (50-70 CHF).
So kann ich etwas auf die Seite legen, damit ich meine Krebserkrankung behandeln lassen kann. Ich bin im Stadium 2.

Man spricht bei Krebs von einem Stadium, um die Tumorentwicklung zu bestimmen. 2A bezeichnet ein frühes Stadium, 2B ein lokal bereits fortgeschrittenes Stadium.

Der Nachtzug
– Und haben Sie Schmerzen?
Ja, ziemlich. Vor allem, wenn ich in den Zügen die Nacht verbringe. Die Ärzte geben mir 3 bis 5 Jahre.
Um zu schlafen, nehme ich den letzten Zug Richtung Jaroslawl. Er fährt um 0.45 Uhr ab. Das machte ich all die letzten Wochen so. Die Züge waren sogar geheizt. Jetzt haben sie die Heizung abgestellt und das Einschlafen ist schwieriger. Manchmal lassen die Kontrolleure die Heizung in einem oder zwei Wagen angeschaltet und wir Obdachlosen können dort übernachten.
Wie lange hat man, hin und zurück?
Normalerweise kommen wir um 6 Uhr zurück. Aber es geht manchmal auch schneller. Der Zug fährt dann direkt nach Moskau, ohne Halt.
Das sind dann kurze Nächte, verstehen Sie.

Die Bullen
Manchmal kommt auch die Polizei. Eines Abends haben uns 12 Polizisten rausgeschmissen. Ich konnte ihnen lange erklären, dass das Regierungsdekret soundso es verbietet, alte Leute und Kinder aus den öffentlichen Transportmitteln auszuweisen, wenn die Temperaturen unter minus zehn Grad sind. Die Polizisten haben einfach gesagt, sie wüssten nichts davon, das sei mein Problem und hopp, raus!
Man würde es nicht glauben, aber in einem Zug zu übernachten ist nicht immer eine gute Lösung, sagt Viktor Petrowitsch.
Im Allgemeinen helfen uns die Kontrolleure und raten uns, nicht in Gruppen zu reisen, da uns die Polizei in Ruhe lassen würde, wenn wir uns auf mehrere Wagons verteilten.
Aber eben, wenn wir uns zusammentun und uns aneinanderdrücken, dann, weil wir Angst vor Vandalenakten haben. Angst? Ja, wir haben Angst. Man weiss nie, was passiert. Die Polizisten schlagen uns auf den Kopf oder stehlen uns den Koffer oder den Rucksack.
Ausserdem hat jeder zweite von uns keine Dokumente, und diese Personen sind schlechten Behandlungen noch mehr ausgeliefert. Es kommt sogar vor, dass Polizisten die Ausweise konfiszieren.

Erbarmungslos
Viktor erzählt weiter: Man muss nicht einmal in einem Zug sitzen. Man kann sich auch einfach in einen Wartesaal setzen, sogar ohne zu schlafen, mit geöffneten Augen. Der Bulle kommt, packt dich bei der Schulter und schmeisst dich mit Wucht auf die Treppe oder wirft dich mit Fusstritten aus dem Gebäude. Es ist ihm egal, ob es draussen kalt ist oder nicht, ob du krank bist oder nicht.
Überhaupt muss man bei sehr guter Gesundheit sein, um der Kälte und dem Schnee standzuhalten und nicht umzukommen, sagt Viktor Petrowitsch zum Schluss.

Nächste Woche erzählt uns Nora vom seltsamen Herrn Slawa.

Danke, dass Sie uns weiterhin unterstützen. Unsere Aufgabe ist riesig. Wir retten Leben.

Wichtig: Trotz des Boykotts der Banken kann unsere finanzielle Hilfe fortgesetzt werden.

 

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