Der Platz der drei Bahnhöfe

Nennen wir sie Nora, die Journalistin der Nowaja Gaseta, die in die Welt der Obdachlosigkeit eingetaucht ist, und zwar an einem den Moskowitern gut bekannten Ort, dem Platz der drei Bahnhöfe.
Auf Anfrage von Nochlecka hat Nora Tag und Nacht obdachlose Sans-Papiers aufgesucht, die sich auf den Bahnhöfen und in deren Umgebung niedergelassen haben.
Nora berichtet uns von ihren Begegnungen und Erfahrungen mit diesen russischen Bürgern, die in ihrem eigenen Land heimatlos sind.

Ein wenig Menschlichkeit
Inmitten von Gewalt, Ungerechtigkeit und Grausamkeit habe ich an diesen Orten viel Mitmenschlichkeit vorgefunden. Darauf war ich überhaupt nicht gefasst.
Obdachlose, die einander unterstützen, ein Putzmann am Bahnhof, der die Leute nicht aus den WC-Anlagen wegschickt, sondern zuhause Suppe kocht, die er ihnen mitbringt; Bürgerinnen und Bürger, die nicht an den Bahnhof kommen, weil sie irgendwohin reisen wollen, sondern um diesen sozialen Flüchtlingen ihre Hilfe anzubieten; Zugführer, die in einigen Wagen die Heizung laufen lassen, da sie wissen, dass die Leute dort übernachten werde; Polizisten die diese Unglücklichen nicht in die Kälte schicken und ihnen dadurch das Leben retten.

Keine besonderen Merkmale
Der einzige Unterschied zwischen den Obdachlosen und allen anderen besteht darin, dass sie auf der Strasse leben und nicht wie wir ein Zuhause haben, betont unsere Journalistin.
Vom Montag bis zum Donnerstag bin ich von einem Bahnhof zum anderen gefahren, vom Leningrader zum Kasaner Bahnhof. Ich habe gratis ein Ragout gegessen, habe auf einer Bank geschlafen und während vieler Stunden mit diesen Frauen und Männern über ihre Erfahrungen und ihren täglichen Überlebenskampf gesprochen.
Und jetzt erzähle ich Ihnen von meinen Erlebnissen.

Im Allgemeinen ist es schwierig, in einer Menge eine obdachlose Person zu erkennen. Denn nicht alle sind in Lumpen gekleidet und wie viele Reisende tragen einige meiner Gesprächspartner sogar gute Winterjacken.
Zwar ist es richtig, dass ein Obdachloser eine Tasche herumschleppt, in dem er seine Sachen verstaut hat. Aber auf dem Bahnhof sehen Sie viele Leute, die mit einer Tasche oder einem Rucksack umherlaufen. Mehr als einmal ist es mir passiert, dass ich mich auf gut Glück an einen Passagier gewandt und ihn in Erstaunen versetzt habe, als ich fragte: «Entschuldigen Sie, wohnen sie hier?».
Selbst wenn Sie zu jemandem auf der Strasse sprechen, nehmen Sie kaum einen ausgeprägten Geruch wahr. Nachts in einem Wartsaal, wo eine Menge von Reisenden auf die Zugsabfahrt wartet, ist der Gestank ohnehin so penetrant, dass er alles dominiert.
Wenn man sich einem Obdachlosen nähert, bemerkt man oft gewisse Details: ein von Erschöpfung geprägtes Gesicht, schmutzige Fingernägel, ausgetretene Schuhe.
Diese «Bahnhofbewohner» waschen sich, putzen sich die Zähne in den öffentlichen Toiletten und waschen dort sogar manchmal ihre Kleider.

Spezielle Obdachlose
Die obdachlosen Sans-Papiers haben fast alle ein Telefon, die meisten ein Smartphone. einige arbeiten als Kuriere, einige als Massagetherapeuten, andere sortieren Abfälle, wieder andere leben von ihrer Pension. Viele von ihnen schlagen sich mit nur wenig Geld oder ganz ohne Geld durchs Leben.
Obdachlos sein bedeutet nicht, dass man die ganze Zeit am Bahnhof lebt. Wenn immer möglich sucht sich ein Obdachloser irgendeine Unterkunft, ohne sich gross darum zu kümmern, dass er keinen Identitätsnachweis hat.

Abstinente Russen
Ich glaube nicht, dass meine Gesprächspartner eine repräsentative Gruppe bilden.
Erstens sprechen alle russisch. In diesen Bahnhöfen hat es viele Migranten. «Meine Russen» bleiben unter sich, sie haben Angst, bestohlen zu werden. Es sind zwei Welten, die nicht miteinander verkehren.
Zweitens sind fast alle abstinent. Einige trinken aus Prinzip keinen Alkohol, andere mögen ihn einfach nicht. Die Abstinenten halten zusammen und ich befand mich in dieser Gruppe.
Und die Hälfte der Personen, die ich getroffen habe, hat weiterführende Schulen absolviert.
Die Gruppe meiner Gesprächspartner hat zwar genau definierte Eigenschaften. Dazu kommt aber noch das, was man als den gemeinsamen Nenner der Obdachlosigkeit in Russland bezeichnen könnte: Die individuellen Rechte sind nicht an die Person gebunden, sondern an ihren Wohnort. Und ohne festen Wohnsitz gibt es keine Propiska und keine administrative Existenz. Alle sind diesem System unterworfen.

Menschen wie wir (oder fast)
“Meine Russen” der drei Bahnhöfe kritisieren ständig die Behörden. ”Dieses Problem muss auf staatlicher Ebene gelöst werden. Es ist ein gesellschaftliches Problem, das vor die Duma gebracht werden soll! Man muss jeden Oligarchen verpflichten, uns einen Hundertstel eines Prozents seines Einkommens abzugeben“, verkünden sie lauthals.
Sie erklären einem auch, wie man im Winter bei minus fünfundzwanzig Grad überleben kann, informieren darüber, dass man möglicherweise bestraft wird, wenn man sich mit dem Thema zu sehr auseinandersetzt und sogar als Staatsfeind taxiert werden kann. ”Es ist besser, wenn Sie sagen, dass es die Schuld des Obdachlosen ist, wenn er bei minus 30 Grad erfriert.
Sie hören Musik und schauen Serien auf ihrem Handy. Einige gehen auch in Kunstausstellungen. Andere lesen Maupassant oder Balzac irgendwo in einer Ecke.
Aber meistens warten sie, sie warten einfach.

Zu diesem Thema hatte ich einmal ein wunderbares Gespräch mit einem der Obdachlosen:
– Was machst du so den ganzen Tag?
– Ich habe nichts zu tun, aber ich bin doch ein bisschen beschäftigt.
– Du bist beschäftigt?
– Ja, ich warte.
– Und womit füllst du diese Warterei?
– Mit nichts. Mit Leere.

Ich stelle die Geschichten «meiner Russen» nicht in Frage, will aber auch nicht behaupten, dass sie jedes Wort glauben, das sie mir sagen. In meinen Text habe ich keine erfundenen Märchen eingebaut. Ich präsentiere die Geschichten so, wie sie sind.
Mehr als einmal habe ich Sätze wie zum Beispiel diesen gehört: ”Sprich nicht mit mir, ich bin nicht wirklich ein gewöhnlicher Obdachloser. Sprich besser mit Vera“. Jeder betrachtet seine Geschichte als echt. Und natürlich haben alle recht.

Lesen Sie die nächste Woche die Abenteuer von Vera.

Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken. Erst recht jetzt, wo es hier immer noch Winter ist.

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