Die redelustige Khadycha

Khadycha, eine ganz spezielle Obdachlose, habe ich in den Toiletten des Leningradski-Bahnhofs angetroffen, erzählt Nora, Journalistin bei der Nowaja Gaseta.
Auf Wunsch von Nochlechka hat sich Nora am Platz der drei Bahnhöfe eingerichtet, wo sie Tag und Nacht mit den Obdachlosen dieser Gegend in Kontakt kommt.
Nachdem wir die Geschichte von Vera und ihrem Lebensgefährten Andrej gehört haben, erzählt uns Nora heute von dieser tadschikischen Frau, die ein buntes Kopftuch trägt und übergewichtig ist.
Khadycha ist 52 Jahre alt und schwatzt pausenlos. Ihre Mutter hat sie verlassen, als sie noch ein Kind war. Khadycha wurde in ein Waisenhaus gesteckt, wo man Russisch sprach. Deshalb wurde sie ihr ganzes Leben lang Katja genannt. Anfangs war es schwierig den Namen Katja zu akzeptieren, aber jetzt ist es der beste Vorname, den es gibt, meint Katja.

Verflixte Heiraten
Als sie 18 war, nahm ihre Mutter sie wieder zu sich und versuchte, sie in den tadschikischen Bergen zu verheiraten. Katja leistete Widerstand und der Bürgerkrieg tat das Seinige dazu, dass die von der Mutter ausgedachten Heiratswünsche nicht in Erfüllung gingen.
Katja flieht nach Baschkirien, wo sie allein einen Mann findet.
Ich dachte, die richtige Wahl getroffen zu haben. Von wegen! Dieser Typ war ein Sklavenhalter. Nie hat er zuhause mitgeholfen, hat weder finanziell noch physisch irgendetwas zu unserem Zusammenleben beigetragen. Er beutete mich richtiggehend aus.
Ich arbeitete in den Gärten von Ufa, der Hauptstadt. Ich konnte knapp davon leben. Mit meinem Geld ging er die ganze Zeit zu Frauen, trank und schlug mich brutal zusammen.
Im Jahr 2007 habe ich ihn rausgeworfen. Aber da ihm die Wohnung gehörte, war ich es, die raus musste.
Seit 17 Jahren überlebe ich nun auf der Strasse, sagt Katja, immer noch voller Empörung, auch 17 Jahre später.

Heimliche Massagen
Seit meiner Ankunft in Moskau war der Leningradski-Bahnhof meine Sommerfrische, wenn man so will, fährt Katja weiter.
Im August 2023 lernte ich den Nachtbus von Nochlechka kennen. Was für ein Glück habe ich doch gehabt. Ich glaube, das war der erste Hoffnungsschimmer seit vielen Jahren. Dank Nochlechka kann ich heute ein Zimmer in einer Unterkunft am Stadtrand von Moskau mieten.
Ausserdem verdiene ich ein wenig Geld, indem ich kranken Leuten Massagen anbiete, vor allem älteren baschkirischen Menschen. Ich finde meine Kundinnen in dem für Frauen reservierten Teil der Moschee-Kathedrale. Die ist nicht weit vom Bahnhof entfernt.
Ich suche auch Kundinnen im Tea-Room gleich neben der Moschee.
Die Massagen mache ich in der Garderobe der Moschee, dort, wo man mich nicht sieht, wo es keine Kamera hat. Sonst, würde man mich mit Stockhieben verjagen, wie sie sich vorstellen können! Pro Massage verdiene ich 500 Rubel.

Ein Wiedersehen
Ich arbeite allein, das ist besser so. Ich bin zwar immer noch eine Obdachlose, aber ich übernachte in einer Unterkunft.
Wenn Sie mich heute hier in den Bahnhoftoiletten finden, dann, weil ich auf eine Freundin warte, Grossmutter Nina. Sie hat sich hier niedergelassen.
Warum hast du sie unter allen anderen ausgewählt?», fragt Nora.
Weil sie mich ausgewählt hat. Nina hat sofort gemerkt, dass ich ihr gegenüber nicht gleichgültig war. Nina ist gut, freundlich und grosszügig. Sie hat mir bei meiner Ankunft hier sehr geholfen.
Sie wollte mir sogar ein paar Rubel schenken. Von wegen. Ich habe ihr gesagt: «Sie selbst leben ja nur von einigen Kopeken, das kann ich nicht annehmen.» Es zeigte sich, dass sie eine völlig naive Person war, genauso wie ich.
Heute habe ich ihr Kefir mitgebracht und Frischkäse. Ich werde ihr auch einen Tee offerieren. Ich schaue, dass sie genug zu essen hat. Nächstes Mal bringe ich ihr eine Torte, ein Kotelett und Buchweizenmehl. Gestern habe ich ihr 200 Rubel gebracht. Nina sagt immer: «Ich habe keine Freunde.»
Aber sie hat mich, erklärt Katja.

Unsere Journalistin der Nowaja Gaseta führt die Portraitserie von obdachlosen Menschen weiter und wird uns nächste Woche von dieser Nina erzählen, die in den Toiletten des Leningradski-Bahnhofs überlebt.

In Moskau und Sankt Petersburg gibt es abertausende Ninas, Veras und Katjas. Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken.

Wichtig: Trotz der gegen Russland verhängten Sanktionen ist es uns immer noch möglich, Ihre Unterstützungsbeiträge zu überweisen.

 

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