Warum ich bleibe?

Ich bleibe, um diesen Ort zu beschützen, das ist meine Art, mich dem zu widersetzen, was ich nicht akzeptieren kann und was mir ein grundsätzliches Übel zu sein scheint.
Ich glaube, dass der Augenblick kommen wird, wo unser Land zahlreiche Änderungen erleben wird.
Wenn diese Änderungen einmal möglich sein werden, wird es für mich wichtig sein, dass es einen Ort gibt, von dem aus wir wieder starten können.
Einen Ort, der die humanistischen Prinzipien schützen und den Glauben an die Bedeutung jedes Lebens sowie an die menschliche Würde aufrecht erhalten wird.
Ein Ort, der die Leute zusammenführt, an ihre Verantwortungsgefühl appelliert und ihnen hilft, ohne über sie zu urteilen.
Ich bleibe, um diesen Raum zu verteidigen.

Daria Baibakova, die Direktorin von Nochlechka in Moskau, hat dem Magazin Forbes Women Russland am 10. März 2023 ein Interview gegeben.
Hier einige Ausschnitte, in denen Daria über die aktuelle Situation berichtet und über den Einfluss, den der Krieg in der Ukraine auf das Problem der Obdachlosigkeit hat.

Viele Veränderungen nach dem 24. Februar 2022
Lange Zeit befand ich mich in einem Zustand, in dem man mit dem Verstand erfasst, was passiert, aber man kann nicht verstehen, wie das möglich ist.
Es ist offensichtlich geworden, dass neue Probleme entstanden sind, und wir sind Teil davon. Unsere Arbeit bei Nochlechka besteht darin, die Folgen dieser Tragödie, die ganz bestimmte Personen betrifft, abzuschwächen.
Es gibt zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen der Situation der Obdachlosen und derjenigen der Flüchtlinge, der Leute, die keine Unterkunft haben, kein Sicherheitsgefühl, sich notgedrungen auf der Strasse wiederfinden wegen Arbeitslosigkeit, Gewalt oder Armut.

Die Konsequenzen sind beträchtlich
Das Vorgehen unseres Landes führt unweigerlich zu einer grösseren Zahl von Obdachlosen, aber auch zu mehr Armutsbetroffenen und zu mehr Arbeitslosen.
Wir würden sehr gerne all diese sozialen Probleme lösen, aber mit Nochlechka können wir wenigstens auf sehr bescheidenem Niveau die Konsequenzen etwas mildern, unter denen Tausende von Personen leiden.
Im Jahre 2022 hat die Zahl der Kunden aller unserer Hilfsangebote im Durchschnitt um 55% zugenommen. In gewissen Monaten sind sogar doppelt soviele Personen als gewöhnlich gekommen, um Hilfe zu empfangen.
Das ist die Folge der schwierigen wirtschaftlichen Situation des Landes.
Eine der Hauptursachen der Obdachlosigkeit war in Russland im Jahre 2022 der Verlust der Arbeitsstelle und die damit verbundene enorme Schwierigkeit, eine Wohnung zu mieten.

Es fehlt an allem
Die meisten dieser Opfer der Gesellschaft benötigen Hygieneprodukte, Kleider und Nahrungsmittel, aber sie benutzen auch die Möglichkeit zu duschen, ihre Wäsche zu waschen oder sich die Haare schneiden zu lassen.
Diejenigen, die zu uns kommen, sagen, dass das Leben im Jahr 2022 viel schwieriger geworden ist.
Unter ihnen gibt es solche, die noch nicht wirklich auf der Strasse leben, aber die einfach nicht mehr über die Runden kommen.
Deshalb kommen sie zum Verteilzentrum, um eine warme Jacke zu empfangen, zum Nachtbus für einen Teller Suppe oder zum Empfangszentrum, um sich und ihre Kleider zu waschen oder sich die Haare schneiden zu lassen.
Das sind z. B. Rentner, kinderreiche Familien oder alleinerziehende Mütter.
Das, was momentan passiert, ist der Beweis dafür, dass die Lebensqualität in Russland abnimmt.

Die allgemein bekannte Gleichgültigkeit
Den Staat um Hilfe bitten?
Wissen Sie, für Nochlechka waren die Staatsbeiträge nie ein massgeblicher Teil des Budgets, und zwar gezwungenermassen.
Denn die Unterstützung der Personen ohne Wohnsitz war noch nie eine prioritäre Aufgabe des Staates.
So gesehen hat sich 2022 nichts geändert.
In Sankt Petersburg erhielten wir während mehrerer Jahre Subventionen vom Staat, aber mit der Zeit wurde die bürokratischen Hürden immer grösser und wir beschlossen, auf die Unterstützung zu verzichten.
Was das Verhältnis von Aufwand und Ertrag betrifft, so war es ineffizient, eine Unterstützung des Staates zu erhalten.
Wir haben also nicht auf eine staatliche Finanzierung gezählt, und es scheint uns heute, dass die Kombination von finanzieller Unterstützung durch Privatpersonen einerseits und durch Unternehmen aus verschiedenen Bereichen anderseits ein viel nachhaltigeres Konzept für NGOs ist als die Abhängigkeit von staatlichen Subventionen. Auf jeden Fall ist das bei uns so.

Sie sind grossartig
Ist es ein Zeichen der Zeit? Spenden in der aktuellen Situation, ist das vielleicht eine Möglichkeit, sich der Unsicherheit, der Angst, dem Gefühl, nichts bewirken zu können, entgegenzustellen?
Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, denen die Bevölkerung ausgesetzt ist, wurden alle Aktionen, die wir im Jahre 2022 durchgeführt haben, von den Bürgern unterstützt.
Auch heute noch hören sie nicht auf, uns anzurufen und uns zu fragen, wie sie den Obdachlosen helfen können, zum Beispiel während der grossen Kälteperioden.
Es gibt ein Klischee, welches besagt, dass die Leute in Krisensituationen nur an sich denken.

Dieses Klischee hat sich als falsch erwiesen.
Es gibt so viele Menschen, die in diesen Zeiten selbst Hilfe benötigen. Und dennoch haben sie die Obdachlosen nicht vergessen und wenden sich nicht von ihnen ab.

Danke auch Ihnen, dass sie uns weiterhin in diesen besonders schweren Zeiten unterstützen.

Wichtig: Trotz der Tücken des Boykotts ist es uns immer noch möglich, unsere Unterstützungsbeiträge zu überweisen, die heute noch notwendiger sind als früher.

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