Eine historische soziale abspaltung

Russland entspricht nicht dem Bild, das man sich von ihm macht. Im Wildwuchs des kapitalistischen Systems haben nicht wenige Abgeordnete vom Überfluss profitiert. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung weiss dagegen kaum, ob das Geld bis Ende Monat reichen wird.
Für all jene, die keine Unterkunft und keine Papiere haben, ist die Situation sowieso ausweglos.

Schon als die Stadt noch Petrograd oder Leningrad hiess, hat Sankt-Petersburg, das Venedig des Nordens, das Phänomen der Obdachlosen gekannt. Es folgte in dieser Hinsicht dem Beispiel anderer russischen Metropolen.
Die Regierungen lösten sich ab, die Massnahmen gegen die extreme Armut wurden damit nicht besser.

Anstelle der Sozialhilfe gab es nur eine Politik: die brutale Repression
Im 17. Jahrhundert glaubten die zaristischen Autoritäten, die himmelschreiende Armut durch Verbannung, Unterwerfung, Folter oder manchmal durch Hinrichtung verbergen zu können.
Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieses Vorgehen unter dem zunehmenden Druck der öffentlichen Meinung schrittweise durch den Ansatz eines sozialen Hilfssystems ersetzt. Dieses konnte seine Wirkung allerdings gar erst nicht beweisen: die schüchternen Anfänge wurden durch das neue kommunistische Regime hinweggefegt und das alte, repressive System wieder eingeführt.

Unter dem Kommunismus hörte das Problem der Obdachlosen durch einen simplen bürokratischen Erlass auf magische Weise zu existieren auf.
In der Tat war es undenkbar, dass eine solche Problematik im Paradies des triumphierenden Sozialismus möglich war. Und weil Armut nicht existieren durfte, existierte sie einfach nicht: die Obdachlosen wurden zu Kriminellen, das Problem war gelöst.
Durch die systematische bürokratische Erfassung war jeder Einzelne von der Geburt bis zum Tod einer drastischen Kontrolle unterworfen. Grundlage dazu war ein Dokument, die berühmte Propiska.

Schatten auf den Strassen
Seit dem Wechsel im Jahr 1991 werden im Rahmen der Umwandlung des politisch-wirtschaftlichen Systems die unabhängigen Unternehmen bevorzugt. Dies führte zum wilden Kapitalismus, zur zügellosen staatlichen Korruption und zur Privatisierung der Staatsgüter, davon einem grossen Teil des Immobilienparks.
Da dies ohne entsprechende Leitplanken und ohne Sozialgesetzgebung ablief, verloren Millionen von Bürgern ihre Unterkunft, ihre Propiska und damit jegliche Existenzgrundlage, wenn nicht sogar jegliche Überlebenschance. Sie wurden zu Schatten auf den Strassen.

Der Zerfall der USSR hat  für die Sans-Papiers in Tat und Wahrheit nichts verändert. Ohne die Propiska hat der Russe weiterhin keine Rechte.
Zur Zeit existiert kein offizielles Konzept für die Obdachlosen. Durch die Polizei Bomzh bezeichnet, werden sie als Wesen ohne Recht betrachtet, da sie keine Propiska besitzen. Der Begriff Bomzh wird für alle Personen verwendet, die nicht der Norm entsprechen. Man kann diesen Ausdruck mit Aussenseiter übersetzen. In Russland hat dieses unmenschliche, abstossende Vorgehen Jahrhunderte überdauert.

Niemand ist in Sicherheit
Gejagt, verfolgt, eingekerkert; die Bezdomnies haben auch heute nicht mehr gesetzlich gesichertes Existenzrecht als zu Zeiten Stalins und Konsorten. Übrigens ist der Begriff Bezdomnie (Obdachloser) im offiziellen russischen Wörterbuch nicht enthalten. Lediglich einige Nichtregierungs-Organisationen haben ihn in ihr internes Vokabular aufgenommen.
Es wäre falsch zu glauben, dass die Bezdomnies dem Bild der Obdachlosen in Westeuropa entsprechen.

In der Tat kann in Russland jedermann auf der Strasse landen, wenn er seine Unterkunft verliert. Man muss auch nicht ein Sozialfall sein, um dieses Schicksal zu erleiden.

Grund der Obdachlosigkeit: %
Familiäre Probleme 38
Migrationaus wirtschaftlichen Gründen 21
Ehemalige Gefangene 13
Immobilien-Betrug 23
Obdachlos im traditionellen Sinn 5

Es ist deshalb logisch, dass die amtierende Administration das Problem der Obdachlosen leugnet, da es für sie gar nicht existiert.

Die Anerkennung des Obdachlosen-Problems würde bedeuten, dass man das Gesetz bezüglich Pass-Besitz ändern müsste. Im Moment ist davon aber keine Rede, da es das aktuelle Dokument erlaubt, die Herrschaft und die strikte Kontrolle über jeden Einzelnen zu besitzen.