Larissa, welche Verschwendung

Larissa Slesarenko ist fünf Jahre alt, sie entwickelt bereits besondere Talente für das Schachspiel und für die Musik. Begabt oder nicht, die Zufälle im Leben und die Bürokratie können trotz allem jeden auf die Strasse befördern.
Ihre Kindergartenlehrer ermutigen die Eltern von Larissa, sie zu fördern.
Wir treffen uns 1963 in Ufa, einer kleinen Stadt nahe des Urals. Die Eltern, Olga und Pawlov, arbeiten beide in der Fabrik für die Montage von Flugzeugteilen.
Die Fähigkeiten von Larissa korrespondieren in keiner Weise mit den familiären Gewohnheiten. Ihre zweiundzwanzigjährige Schwester und der sechsundzwanzigjährige Bruder sind bereits gute Arbeiter, hart im Nehmen.
Nach der Arbeit hat es keinen Platz für intellektuelle Aktivitäten. Die Müdigkeit von Körper und Geist haben Vorrang. Dass Larissa schnell Englisch beherrscht, ändert nichts daran.

Das Schaufenster
In dieser Epoche spürt die UdSSR stets einen grossen Bedarf, Talente zu entdecken und bekannt zu machen. Es sind dies die unvergleichlichen Erfolge des Kommunismus.
Nach nicht endenden Querelen mit den Eltern wird ein Kompromiss gefunden.  Für das Wohl der Partei tritt Larissa in die Musikpädagogische Schule ein. Sie ist sieben. Nach einem Jahr brillanter Studien wird Larissa in eine Schule transferiert, wo Musiklehrer ausgebildet werden. Aber nichts half, auf Drängen der Eltern, Anordnung der Partei oder nicht, kommt Larissa in die Stadt Zagorsk, weit entfernt von der Musik, der englischen Sprache und dem Schachspiel. Larissa ist dreizehn.

Das Proletariat
Nach meinem zweiten Jahr, erzählt Larissa, die wir in einem Wartsaal von Nochlechka treffen, habe ich geheiratet. Ein Jahr später wurde unser Sohn Anton geboren. Natürlich habe ich meine musikalische Periode schrecklich bereut. Der Unterricht war recht langweilig und es ist kein Zufall, dass ich schwanger wurde.
Mein Leben hat sich in einer Art entwickelt, dass ich keine der notwendigen Qualifikationen erhielt, um eine berufliche Ausbildung zu absolvieren.
Der Gipfel, wenn man an die Talente denkt, die Larissa besass.
Mit ihrem Mann, ihrer Schwiegermutter und dem neugeboren Anton ist Larissa in die Stadt Kalyazin umgezogen.

Der Absturz
Im Verlaufe der 11 Monate, in denen wir in dieser engen Wohnung zusammengepfercht gewohnt haben, habe ich 30 kg abgenommen. Sie können sich die Stimmung vorstellen, sagt sie mit einem sauren Lächeln. Alles war sehr eng, alle sind Schlange gestanden, für alles, alles war grau, erinnert sich Larissa noch.
Ich habe geschieden, bin aus diesem Gefängnis geflohen. Mit Anton sind wir in Moskau angekommen. Das Klima der Stadt war für meinen Sohn mit Asthma aber unerträglich. Ich musste ihn zu seinem Vater zurücksenden. Ich habe ihn nie mehr gesehen.
Geld verdienen ist unabdingbar, ich habe eine Anstellung gesucht. Nichts, kein Beruf entsprach meinem Looser-Profil. Ich bin auf einer Baustelle gelandet. Das Resultat:  15 Jahre mit einer Mörtelkelle in der Hand, das ändert die Tonleitern auf dem Klavier. Manchmal mussten wir Quoten erfüllen, wir haben in der Kälte auf der Baustelle geschlafen, auf dem Boden.
Im Lauf der Zeit hat dies meine Gesundheit angegriffen.
Ich habe mit meiner Schwester zusammengewohnt. Eines Abends habe ich beim Heimkehren realisiert, dass sie die Schlösser gewechselt hatte. Es war unsere Wohnung, wir haben sie zusammen gekauft. Strasse, da bin ich.

Wo wohnen?
Ich bin beim Ortspolizisten gewesen, er hat mir gesagt: das kommt vor, gehe zum Gericht. Aber ein Rechtsstreit kann Jahre dauern und...
Trotz fehlendem Wohnort, fehlender Propiska hat Larissa schlussendlich in einem Lagerhaus gearbeitet. Zwei Monate lang hat sie geschuftet, aber statt des versprochenen Lohnes hat sie nur 5’300 Rubel erhalten, 53 Franken für zwei Monate Arbeit, zehn Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche.
Die Direktion unterbezahlt alle Arbeiter auf dieselbe Art, entweder du akzeptierst es oder du gehst… Ich bin gegangen, habe diese Ausbeutung satt gehabt, sagt Larissa noch.
Larissa versucht, anderswo eine Anstellung zu finden, aufgrund fehlender Nachweise für eine notwendige Ausbildung und fehlender Propiska wird sie nicht angestellt oder steht hinterlistigen Gaunern gegenüber.
Moskau ist eine absolut einmalige Stadt. Entweder täuschen Sie sich oder Sie werden getäuscht, stellt Larissa fest. Und jetzt bin ich da, seit Jahren, ohne Arbeit und ohne Dach über dem Kopf.

Überleben
Ich weiss nicht, wie es die Leute schaffen, zu überleben, wie ich überhaupt noch da bin, auf der Suche nach etwas Essbarem und einem Platz für die Nacht umherirrend, auf der Suche nach warmen Kleidern, um im Winter nicht tiefgekühlt zu werden.
Sie wissen, fügt Lariss bei, das Verhalten der guten Bürger ist gegenüber uns obdachlosen Sans-Papiers nicht sehr gut, in ihren Augen sind wir weniger als nichts, nicht einmal Scheisse.

Heute wurde Larissa in unserem Empfangszentrum aufgenommen. Es werden grosse Anstrengungen unternommen, um sie wieder auf die Beine zu bekommen, für sie wieder eine administrative Identität zu erhalten und eine Arbeit, erklärt Pavel Lyaks, unser Sozialassistent.
Pavel fügt an, Larissa ist ein gutes Beispiel dafür, was jedem von uns passieren kann. Die Obdachlosigkeit ist ein Lebensumstand und keine Eigenschaft einer Person.
Wir können es nicht genug oft wiederholen, dass die grosse Mehrheit der obdachlosen Sans-Papiers unseres Landes Opfer sind. Wir unternehmen alles, damit sie es schaffen.

Unsere Aufgabe ist riesig, helfen Sie uns, Leben zu retten.

Wichtig: Trotz der Boykott-Massnahmen gelingt es uns immer, ihre finanzielle Unterstützung zu übermitteln.

 

 

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