Die Unsichtbaren

Stellen Sie sich vor, in Sankt Petersburg sind es gegen 70’000: Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder, sogar Kleinkinder, alles Obdachlose.
Aus Anlass des 35-jährigen Jubiläums von Nochlechka, hat Danil Kramarov, der Präsident von Nochlechka, der Zeitung Kommersant (Sankt Petersburger Ausgabe) ein langes Interview gegeben. Hier ein paar Auszüge davon.

Bei null angefangen
Vor 35 Jahren hiess unsere Stadt noch Leningrad. Der Staat verteilte den Bedürftigen Lebensmittelkarten, mit denen sie Essen kaufen konnten. Aber nur an registrierte Personen, also an solche, die eine Propiska hatten, erklärt Danil Kramarov.

Am 6. Februar 1990 befindet sich die UdSSR in einem Zustand völliger Auflösung Der Hunger ist allgegenwärtig. Einer der vielen Hungerleidenden ist Valeri Solokov, ein Systemgegner.
Angesichts des Mangels an Nahrungsmitteln für obdachlose und papierlose Menschen ergattert Solokov Essensmarken und gibt sie Bedürftigen ab. Zusammen mit den ersten Freiwilligen, die zu Hilfe geeilt sind, verteilt er deutsche Beutelsuppen und Tee.
So ist Nochlechka, zu Deutsch «ein Dach für die Nacht», entstanden. Die Organisation zieht in einen feuchten Raum im Untergeschoss eines besetzten Hauses ein, an der Puschkinskaja 10.

— Wie hat sich Nochlechka in den 35 Jahren verändert?
Wir haben uns immer mehr entwickelt, erzählt Danil Kramarov weiter. Wir sind immer effizienter geworden, weniger politisch, mehr im konkreten Sinn. Im Laufe der Jahre haben wir trotz unzähliger Hindernisse zahlreiche Hilfsaktionen geschaffen, auf die wir sehr stolz sind.

Mehr Effizienz
In diesen 35 Jahren sind wir reifer geworden. Wir passen uns an und verbessern uns dank unseren Erfahrungen.
Heutzutage betrachten wir die obdachlosen Sans-Papiers zum Beispiel nicht mehr als eine einheitliche Gruppe, unsere Hilfe ist viel gezielter geworden, ausgerichtet nach spezifischen Kriterien. Vor allem unterscheiden wir klar zwischen den Bedürfnissen der Frauen und jener der Männer.
Dieser neuartige Ansatz begann in Moskau dank der dortigen Direktorin von Nochlechka, Daria Baibakova.

Unsere Mission war ein utopischer Versuch, ein soziales System an der Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft zu erschaffen, wo jeder und jede Basishilfe erhalten kann, also alle, die auf der Strasse leben, aus welchem Grund auch immer. Dies im Wissen darum, dass niemand gegen Obdachlosigkeit gefeit ist.

In Wirklichkeit ersetzen wir aber die fehlende staatlich Hilfe. Ob heute oder vor 35 Jahren, die Situation ist die gleiche: Wenn Sie in Russland nicht von den Behörden registriert worden sind, existieren Sie nicht und erhalten deshalb weder soziale noch medizinische Hilfe.

Schatten in der Nacht
— Es stimmt also, dass diese Menschen nicht exisiteren?
Es ist so: Die meisten dieser Leute sind für alle anderen unsichtbar. Auch für die Behörden sind sie unsichtbar, da sie nicht registriert sind. Sie werden übrigens auch nicht mitgezählt bei Volkszählungen. Obdachlose und papierlose Personen bemühen sich, nicht ins Blickfeld der Normalbürger zu geraten. Sie verbringen den Tag in verlassenen Gebäuden und kommen praktisch nur nachts raus.
Ich sage es noch einmal: Verwaltungstechnisch gesehen existieren diese Leute nicht, mit allen Konsequenzen, die das nach sich zieht. So hat es zum Beispiel in Sankt Petersburg Anlaufstellen in jedem Quartier, städtische Einrichtungen, die den Obdachlosen Unterstützung anbieten sollten. Aber um dort Zugang zu erhalten, muss man eine grosse Menge von Dokumenten mitbringen. Und die Zahl der Plätze ist auf etwa 20 pro Quartier beschränkt. Das ist sehr wenig.
Bei Nochlechka ist eine Person ohne Papiere willkommen. Es gibt nur eine unumstössliche Regel: Sie dürfen nicht kommen, wenn Sie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehen. Das ist die Regel Nummer eins, für die Sicherheit unserer Angestellten, der Obdachlosen in unseren Aufnahmezentren und als Grundlage für das Zusammenleben.

Ein wirtschaftlich schwieriges Umfeld
— Wovon träumt Nochlechka?
Im Winter würden wir unsere Obdachlosen gerne in dauerhaften Unterkünften unterbringen. Unsere Überlebenszelte sind nämlich nicht ideal. Hinzu kommt, dass wir fast jede Wintersaison wieder langwierige Anträge stellen müssen, um die Zelte auf einem unbebauten Grundstück aufstellen zu dürfen. Und solche Orte gibt es immer weniger. Bei Vassilevski zum Beispiel haben wir sechs Jahre hintereinander ein Zelt aufgestellt. Aber jetzt erlebt dieses Quartier einen solchen Bauboom, dass wir von allen Seiten von den neu erstellten Gebäuden bedrängt werden.
Wir möchten auch gerne in Sankt Petersburg ein Aufnahmezentrum nur für Frauen bauen.
Neben dem nicht unbeträchtlichen wirtschaftlichen Aspekt besteht ebenfalls die Schwierigkeit, ein passendes Grundstück zu finden. Es muss ein Ort sein, der zu Fuss erreichbar ist und nicht irgendwo am Stadtrand liegt, aber trotzdem genug weit entfernt von anderen Wohnblöcken, um keine Ablehnung der dort lebenden Bevölkerung zu provozieren.
Aber vor allem brauchen wir ganz dringend einen neuen Nachtbus.
Das alles erfordert umfangreiche Finanzierungen. Bei der aktuell hohen Inflation von 9,5% wird es nicht einfach sein, diese Projekte zu verwirklichen.
Das Interview wurde von Anna Kashurina geführt.

In Moskau und in Sankt Petersburg gibt es Tausende obdachlose und papierlose Frauen und Männer, die unter unwürdigen Bedingungen überleben müssen. Sie benötigen Ihre Hilfe.

Im Winter ist unsere Aufgabe noch wichtiger als sonst. Unterstützen Sie uns und retten Sie Leben.

Wichtig: Trotz des Boykotts gelingt es uns immer, ihre finanzielle Hilfe weiterzuleiten.

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