Ich kann nicht mehr. Meine Füsse sind dermassen geschwollen, dass ich in den Socken gehen muss. Glücklicherweise sind sie dick, sagt Nora bei der Haltestelle des Busses.
Heute Abend sind die Frauen zahlreich, die auf die Verteilung des warmen Essens warten. Mit ihnen etwa siebzig Männer. Viele Leute, hält Daria Baibakowa, Direktorin von Nochlechka Moskau, fest.
Eine Freiwillige unter andern
Heute Abend nehme ich an der Tour teil, mein Vorgehen, um zu wissen, ob unser Hilfsservice seine Funktion sicher erfüllt und mögliche Verbesserungen zu analysieren. Einmal pro Monat bin ich mit den Freiwilligen, um die Suppe zu servieren, fährt Daria weiter.
Die obdachlosen Sans-Papiers nehmen der Reihe nach ihren Teller Suppe und ihr Stück Brot. Die Männer essen in der Nähe des Busses, nebeneinander, auch wenn sie sich nicht kennen. Die Frauen wählen hellere Plätze, näher bei den Freiwilligen, ein Moment des Friedens.
Nora fragt weinend, ob ein Arzt anwesend ist, um ihre Füsse zu pflegen. Sie fügt bei: Ich habe von Nochlechka gehört, von ihrem Tag der Frau. Aber wissen Sie, ich schäme mich für meinen Zustand und Hilfe zu verlangen.
Daria nimmt sie zur Seite, überzeugt sie vorsichtig, am nächsten Tag ins Empfangszentrum zu kommen, wo Nora sich duschen kann, Kleider, Unterwäsche und Hilfe findet. Nora möchte nach Hause zurückkehren, Moskau verlassen, das sie hasst. Aber die Reise kostet, sagt Nora noch, 2’500 Rubel (23 CHF), wo soll ich einen solchen Betrag hernehmen?
Der Staat ohne Gefühl
In Moskau zählt man Zehntausende von obdachlosen Sans-Papiers. Leute, die keinerlei Rechte auf eine administrative Existenz haben.
Daria Baibakowa erklärt: paradoxerweise entwickelt der Staat Gesetzesprojekte, welche die Rechte der Obdachlosen schützen und auf dem Papier ihre administrative Registrieung erleichtern sollten. Die Anwendung dieser Gesetze richtet sich dagegen oft gegen die Obdachlosen, nicht zu ihrem Vorteil.
Für uns NGO ist diese Situation kafkaesk. Sie gestaltet unsere Arbeit komplexer, speziell für unsere Juristen, die versuchen, unsere obdachlosen Sans-Papiers administrativ zu rehabilitieren.
Ich weiss nie, ob der Staat trotz allem damit zufrieden ist, dass wir ihn in dieser Arbeit der sozialen Hilfe ersetzen. Was ich feststelle ist, dass der Staat die Aufgabe oft nicht erleichtert. Der obdachlose Sans-Papier kann nicht wählen, Steuern oder Bestechunsgelder bezahlen, er hat deshalb keinerlei Interesse.
Zudem ist die Gesellschaft nicht bereit, Druck zu machen, dass dieser Zustand ändert. Ihre Bedürfnisse liegen nicht nur anderswo, es ist aber auch einfacher, eine Person ausserhalb des Systems zu ignorieren als zu verstehen, weshalb sie ausgeschlossen ist.
Ein grüner Mantel
Eine kleine, alte Frau, vornübergebeugt, in einen grünen, zu langem und zu weitem Mantel, nähert sich und erzählt:
Ich arbeitete als Frau für alle Aufgaben im Workhouse nahe des Bahnhofs von Paweletsky. Nach drei Jahren schuften wie eine Sklavin bin ich abgehauen, seither bin ich auf der Strasse.
Du weisst nicht, wie hart es dort ist. 40 Männer schuften dort und schlafen dort. Und wir waren nur zwei Frauen, um diesen ganzen Saustall zu reinigen und für alle auch zu kochen. Morgens um vier aufstehen, bis Mitternacht.
Dies alles für 200 Rubel (1.85 CHF) pro Tag, 200 Rubel… Ich konnte nicht mehr, ich kann nicht mehr.
Ein Kampf in jedem Augenblick
Daria, entrüstet, unterstreicht, in welchem Ausmass die skrupellosen Geschäftemacher jeglicher Richtung vom totalen Desinteresse des Staates profitieren, um schamlos Frauen auszubeuten, auch Männer. Dies provoziert ebenfalls die Obdachlosigkeit, wie wir es im Fall dieser Frau im grünen Mantel erleben.
Im September haben unsere Juristen 25 Personen geholfen, ihre Rechte zurückzuerhalten.
Wie Sie sich vorstellen können, werden wir nie aufhören, fasst Daria zusammen.
Unsere Aufgabe ist immens, helfen Sie uns, Leben zu retten.
Wichtig: trotz der Boykott-Hindernisse gelingt es uns immer, unsere finanzielle Hilfe zu transferieren.