Anfangs Februar 2008, 17 Uhr: Das Empfangszentrum liegt im Dunkeln und bricht unter der Schneelast fast zusammen. Im Innenhof rauchen einige obdachlose Sans-Papiers Zigaretten, um sich zu wärmen, während der Thermometer minus 10 Grad anzeigt.
Im ersten Stock befindet sich der Schlafsaal der Frauen, im zweiten derjenige der Männer und im Estrich das Büro, das Herz von Nochlechka. Regale, überfüllt von all den Dossiers, ein paar einfache Tische, zusammengewürfelte Stühle, alles eingezwängt unter dem Schrägdach. Schon lange hat das Innere des Gebäudes keinen neuen Anstrich mehr erhalten.
Es ist Zeit für die Tour
Es laufen die letzten Vorbereitungen für die beiden Nachtbusse. Demnächst beginnt die Verteilung von Lebensmitteln in den nördlichen und den südlichen Quartieren von Sankt Petersburg.
Leiter der Aktion ist Maxim Egorov, Kinderarzt und Psychiater, der seit acht Jahren die Geschicke der NGO präsidiert.
Auch wenn die Unterstützung der obdachlosen Sans-Papiers prioritär ist, so ist es für Maxim ebenso wichtig, einen Kampf auf politischer Ebene zu führen. Denn es ist am Schluss ja diese berühmte Propiska, die das Schicksal der russischen Bürger/-innen bestimmt. Sie ist vor allem ein behördliches Kontrollinstrument. Würde die Propiska abgeschafft und würden die obdachlosen Sans-Papiers als russsiche Bürger und Bürgerinnen vollständig anerkannt, so wäre die Obdachlosigkeit zu einem grossen Teil gelöst.
Zwei Nachtbusse, und dann nur noch einer
Im Laufe dieser 33 Jahre hat die Operation Nachtbus einige Fahrzeuge verschrotten müssen. Das unumgängliche Leitmotiv von Nochlechka lautet: Ein Fahrzeug solange brauchen, bis es nicht mehr fahrtüchtig ist, und erst dann ein neues anschaffen.
Im Jahr 2002 konnte der erste Bus dank der Spende eines deutschen Paars erworben werden. Es hatte ein Jahr zuvor Nochlechka besucht und war tief beeindruckt von der grossen Aufgabe und der dafür geleisteten Arbeit. Nach Deutschland zurückgekehrt, organisierten die beiden eine Kollekte, um ein Occasionsfahrzeug zu kaufen.
Im Jahr 2009 mussten die beiden Busse immer häufiger repariert werden. Die Gelder dafür fehlten; deshalb musste einer geopfert werden. Seither gibt es nur noch ein einziges Fahrzeug, das einen Teil der nördlichen und der südlichen Quartiere der Stadt abfährt und den Obdachlosen Mahlzeiten, warme Getränke, medizinische Nothilfe und ein bisschen menschliche Wärme bringt.
Die Geschichte wiederholt sich
Im Jahr 2011 wurde erstmals genug Geld gesammelt, um einen ganz neuen Bus zu kaufen.
2015 begann die Krise, ausgelöst durch die Annexion der Krim. Die grossen Probleme der russischen Wirtschaft, der Fall des Rubels und der Anstieg der Inflation (um beinahe 30 %) betrafen Nochlechka direkt und speziell den Nachtbus.
Im September 2017, nach sechseinhalb Jahren guter und treuer Dienste, war der Nachtbus am Ende seiner Kräfte. Er hatte mehr als 200’000 Kilometer zurückgelegt, und dies unter schwierigsten klimatischen Bedingungen. Mehr als 240‘000 warme Mahlzeiten wurden ausgegeben, die die wichtigsten Bedürfnisse von mehr als 40‘000 Personen gestillt hatten.
Am 24. November 2017, nach vielen Unterstützungsaufrufen, konnte ein neuer Bus in Dienst genommen werden. Heute, sechs Jahre später, ist es schwierig geworden, Ersatzteile für das im Einsatz stehende Fahrzeug aufzutreiben.
Mit 136’000 km auf dem Buckel braucht es Wartung und Pflege, aber mit dem Krieg in der Ukraine ist es sehr schwierig geworden, es immer betriebsbereit zu halten.
Von einem Bus zum nächsten, von einem humanitären Projekt bis zu seiner Realisation: Es sind nur wenige Leute, die seit den Anfängen vor 33 Jahren noch da sind.
An leitender Stelle
In der Tat, den obdachlosen Sans-Papiers zu helfen ist eine absolut kräftezehrende Aufgabe. Tagtäglich dem Elend gegenüberzustehen ist schwer zu ertragen. Es gibt so viele Bedürftige, so viele administrative und auch menschliche Hindernisse, dass Erschöpfungszustände häufig sind bei all jenen, die für Nochlechka arbeiten. Einen solch grossen Einsatz an der Spitze der Organisation zu leisten, verlangt enorme physische und vor allem auch mentale Widerstandskraft
Einige können den Druck besser aushalten, andere weniger.
In 33 Jahren hat Nochlechka vier Präsidenten und eine Präsidentin gehabt:
den Dissidenten Valery Sokolov, (1990-2000), den Pädiater und Psychiater Maxim Egorov (2000-2010), Zoia Solovieva (2010-2012), den Ökonomen Grigory Sverdlin, (2012-2022) und Danil Kramorov (2022-…).
Ein echter qualitativer Aufschwung erfolgte unter der Leitung von Grigory Sverdlin.
Auch wenn sich die Ursachen der Obdachlosigkeit seit der Gründung von Nochlechka kein bisschen verändert haben, so ist trotz allem die Beziehung zum Staat etwas einvernehmlicher geworden.
Konkrete Veränderungen haben Vorrang: Es soll vor allem das tägliche Leben der obdachlosen Sans-Papiers verbessert werden, sei es auf der Strasse oder im Empfangszentrum.
In 33 Jahren hat Nochlechka Tausenden geholfen.
Unsere Aufgabe ist riesig: Helfen Sie uns, Leben zu retten.
Wichtig: Trotz der Boykottmassnahmen ist es uns weiterhin möglich, Ihre Unterstützungsbeiträge weiterzuleiten.