Verlassen

Die Journalistin Anna Romanowa der Zeitung Rossijskaja Gazetta hat sich in die Problematik der Obdachlosen in Sankt-Petersburg vertieft. An einem Abend im Februar 2015 hat sie die Tournee des Nachtbuses der Nichtregierungs-Organisation Nochlezhka miterlebt, welcher fünf Mal pro Woche in den nördlichen und südlichen Quartieren der Stadt den russischen Obdachlosen Hilfe bringt.
Hier ihre Eindrücke

«Hört endlich mit den Flüchen auf und damit, die Frauen zur Seite zu drängen. Und Du? Wohin gehst Du? Du hast deine Portion bereits erhalten, ich habe Dich gesehen. Gehe zur Seite».
Jede Nacht überwacht der Fahrer des Nachtbuses, Igor Antonow, die Verteilung der warmen Mahlzeiten an die Obdachlosen und sorgt dafür, dass jeder seine Portion erhält. Die Kälte ist beissend, die Leute frieren. Sie stossen und drängen, um zur Verteilstelle der Lebensmittel zu gelangen.
Einige sind sehr ernst, andere scherzen, wieder andere werden unverschämt und versuchen, ein zweites Mal bedient zu werden mit der Ausrede, eine Portion für den «Kollegen dort nebenan» zu holen.
Für diese Obdachlosen ist Igor einer von ihnen, sie respektieren ihn als Chef, nur er darf sich erlauben, Anweisungen zu geben.
Nach Aussage seiner freiwilligen Kollegen muss jemand die Menge der manchmal «schwierigen» Personen organisieren können, um unangenehme Vorkommnisse zu vermeiden.

Von allen im Stich gelassen …
Gemäss Berechnungen von Nochlezhka gibt es ungefähr 60’000 Menschen, die auf den Strassen von Sankt-Petersburg ihr Dasein fristen, von den städtischen Funktionären «Bomsies» (die Heruntergekommenen) genannt.
Es gibt kaum offizielle Statistiken darüber. Die Verwaltung anerkennt aber, dass mindestens 30’000 Männer, Frauen und Kinder auf den Strassen leben.
Man kennt jedoch die Tatsache, dass jedes Jahr ungefähr 2’000 Obdachlose sterben, meistens im Winter. Die von Nochlezhka errichteten bescheidenen geheizten Unterkünfte (die Überlebenszelte) können an diesem Ausmass kaum etwas ändern.

Die Lebenserwartung eines Obdachlosen beträgt durchschnittlich vier Jahre.
… oder fast.
Der Bus fährt eine genau festgelegte Strecke und hält an vier Orten, um warme Mahlzeiten zu verteilen und erste Hilfe zu leisten. Eine Tagestour des Buses kostet gut 5’500 Rubel (93 Franken), gedeckt durch Spenden.
Dieser Betrag beinhaltet den Lohn des Chauffeurs, das Benzin und einen Teil der Essen. Einige Kantinen geben ihre überzähligen Lebensmittel oder kochen spezielle Mahlzeiten.
Beim ersten Halt erkennt man die Obdachlosen in der Dunkelheit nicht sofort. Dann gewöhnen sich die Augen an die Finsternis und man kann einige Silhouetten ausmachen.
Diese obdachlosen Bürger ohne Ausweise kennen die Ankunftszeit des Buses und warten, auf der Stelle im Schnee tretend. Sie kommen von allen Seiten, stetig werden es mehr. Ganz gewöhnliche Leute, ganz verschiedene Personen, vielleicht schlecht gekleidet, sehr wenige sind betrunken.
Ungefähr ein Drittel von denen, die ihr Gratisessen holen kommen, sind «Babuschki» (Grossmütterchen). Sie wohnen irgendwo, leben aber in totaler Misere. Alle haben mit ihnen Erbarmen, sie werden zuerst bedient, man gibt ihnen eine Zusatzportion.
Auch Baba Vera wohnt in einem Haus in der Nähe, auch sie lebt in grosser Armut. Ihre Pension erlaubt ihr kaum, für die Miete und einige wenige Lebensmittel aufzukommen. Die karitativen Mahlzeiten von Nochlezhka sind für sie unabdingbar.

Bestimmte Personen hinterlassen nicht den Eindruck, obdachlos zu sein, besonders jene, die arbeiten. Bezüglich des Essens hat man heute Glück: zusätzlich zur Pilzsuppe, den Brotscheiben, einer Kiste Zwiebeln und dem Tee hat man Fleischklösschen erhalten. Es sind aber nur deren 18, nicht genug für die rund vierzig Obdachlosen, die in der Umgebung der Station Sortirowoschnaja warten.
«Wir werden die Klösschen nicht hier verteilen», sagt Igor, «das würde eine Rauferei absetzen».

Invalider auf der Strasse ausgesetzt
Igor Antonow betrachtet alle Obdachlosen als seine Angehörigen. Mit gewissen ist er besonders eng verbunden, so z.B. mit seinem Freund Tschischik (der Kanarienvogel), der seine beiden Beine verloren hat. Igor hat versucht, für ihn einen Platz in einem Zentrum für Behinderte zu finden. Diese akzepieren aber keine Leute ohne Ausweise und Tschischik bleibt draussen auf der Strasse.
«Zuert haben wir einen Platz gefunden», erzählt Igor, «als ich ihn am nächsten Tag besuchen will, sagt mir das Pflegepersonal, er sei weggegangen. Wie das, wohin? Er ist doch invalid, hat keine Beine». «Er hat gesagt, es gehe nach Hause». «Aber er hat doch gar kein Zuhause …..».
Später habe ich ihn verlassen auf der Strasse gefunden. Tschischik ist natürlich nicht weggegangen. Sie haben ihn ohne jegliches Mitleid hinausgeworfen.
Das System ist äusserst brutal. Für die Mehrheit der Funktionäre und sogar für das medizinische Personal sind Sans-Papiers inexistent.
«Es ist doch nicht schwierig zu begreifen, dass eine Person am Ende ihrer Kräfte manchmal ein bisschen Platz benötigt, ein Bett und etwas Zuneigung, um in Frieden sterben zu können», fügt Igor bei.

Unmenschliche Bedingungen
Leute wie Tschischik gibt es Zehntausende auf den Strassen von Sankt-Petersburg.
Gemäss Nochlezhka ist die Gesundheit einer grossen Zahl dieser Obdachlosen so angeschlagen, dass sie keine Möglichkeit haben, Arbeit zu finden. Ohne Ausweis können sie zudem auf keinerlei Alters- oder Invalidenrente hoffen.
Diese von der petersburger Verwaltung im Stich Gelassenen sind spürbar lebensmüde, besonders diejenigen, die noch nicht an die Misere gewöhnt sind. In diesem Fall wird die Grenze zwischen Hunger und dem Versuch, Würde und Anstand zu bewahren, sehr, sehr schmal.
Die Freiwilligen von Nochlezhka haben eine stillschweigende Priorität: sie versuchen, in erster Linie den «neuen» Obdachlosen zu helfen, die noch nicht lange auf der Strasse leben, bevor sie von letzterer «verschlungen» werden.
Je länger jemand ein Leben als Obdachloser führt, desto weniger Möglichkeit hat er, davon wieder loszukommen.

Erniedrigend
Beim zweiten Bushalt wird entschieden, die Fleischklösschen zu verteilen. Es sollte für alle reichen. Aber die Warteschlange wird immer länger, es gibt nicht genug für alle. Als Kompensation werden unter strenger Kontrolle zusätzlich kleine Brötchen verteilt.
«Das ist erniedrigend! Beweisen müssen, was man gegessen hat, das bei dieser Kälte!», beschwert sich eine Frau mit intellektuellem Aussehen bei ihrem Partner.
Später erfahre ich, dass dieses Paar erst seit kurzem zum Bus kommt. Sie können nicht mehr nach Hause zurückkehren. Ihre drogenabhängigen Kinder haben die Möbel verkauft. Die Eltern haben sich für die Kinder verschuldet. Die finanzielle Last ist unerträglich geworden, die Heizung wurde abgestellt.
Igor Antonow erklärt: «Die ersten zwei Stops sind die problematischsten. Ich weiss nicht weshalb, die Kerle sind ziemlich aggressiv, harte Burschen, sozusagen unverschämt. Der nächste Halt ist Wassiliewskij. Dort herrscht eine andere Mentalität, intellektuelle Obdachlose. Es kommt vor, dass sie Ihnen Gedichte vortragen».
Effektiv verläuft die Verteilung der Essen an der Morskaja Naberejnaja erstaunlich ruhig. Es hat nur wenig Leute.
In der Warteschlange spricht man von Pink Floyd und dem russischen Rock. Trotz der Kälte sind zwei lederbekleidete Junge voller Fröhlichkeit und Optimismus. Sie machen nicht den Eindruck von «Bomsies». Entweder haben sie gegen ihre Familien revoltiert oder vielleicht sind sie irgendwo abgehauen. Oder sind es momentane Geldprobleme, die sie auf die Strasse treiben?

Als Sans-Papier sind Sie niemand
Gemäss Nochlezhka hat nur ein kleiner Prozentsatz der Leute, die auf der Strasse leben, dies selbst so gewollt. Die grosse Mehrheit ist Opfer der Verwaltung und träumt davon, wieder in die Gesellschaft reintegriert zu werden.
Beinahe alle befinden sich als Folge schlimmer Vorfälle «in diesem finstern Loch». Jeder hat seine Geschichte: eine betrügerische Immobilientransaktion, Verlust der Ausweise, Entlassung aus dem Gefängnis oder dem Waisenheim, Todesfall von Familienangehörigen.
Der allerschlimmste Fall ist jedoch, wenn Leute durch das Verhalten eigener Angehöriger auf der Strasse landen: Kinder, Eltern und Ehepartner werden von zu Hause fortgejagt. Zahlreiche Obdachlose haben irgendwo eine Familie, von der sie aber ausgestossen wurden.

Man kann der Strasse jedoch entkommen.
Die 25 Jahre Erfahrung von Nochlezhka beweisen, dass es keine unlösbaren Situationen gibt.
Der Rechtdienst dieser Nichtregierungs-Organisation empfängt täglich 40 Personen. Sie kommen für juristische Ratschläge, man hilft ihnen, ihre Ausweise zusammenzutragen oder wieder zu erhalten, Arbeit zu finden oder eine Fahrkarte zurück nach Hause zu kaufen. Man beschafft ihnen auch Kleider und Schuhe.
Einige können für einige Zeit in der Unterkunft von Nochlezhka wohnen.
Die staatlichen Sozialdienste und Nochlezhka verrichten dieselbe Arbeit, erstaunlicherweise unterscheiden sich die Resultate aber.
Gemäss den Statistiken der Verwaltung finden lediglich 3% der Obdachlosen den Weg zurück in ein normales Leben.
Bei Nochlechka sind es 60%.
Der Grund ist einfach: um den offiziell anerkannten Status des Obdachlosen zu erlangen, muss man den Instanzen nicht nur beweisen, dass man ein «Bomzie» ist, sondern vor allem, dass man ein petersburger «Bomzie» ist.
Nur unter diesen Bedingungen hat man Anrecht auf eine minimale Hilfe durch den Staat.

Aber wie soll man irgend etwas beweisen, wenn man überhaupt keinen Identitätsausweis besitzt?