Versklavung

Während ich angesichts schönen Versprechungen, mir Arbeit zu verschaffen, noch zögerte, rempelten mich plötzlich zwei Typen an und fesselten mich. Und dann befand ich mich im dunklen Kofferraum eines Geländewagens.
Ein paar Stunden später war ich wieder draussen, in einem Arbeitslager, erzählt Igor, ein obdachloser Sans-Papiers, der von dort fliehen konnte.

Arbeitslager
Theoretisch würden diese Arbeitshäuser von wohltätigen Organisationen geführt, wo bedürftige Menschen, z.B. Obdachlose, halboffizielle Anstellungen und eine anständige Unterkunft hätten und einen angemessenen Lohn erhielten. Das erklärt uns Daria Baibakova, die Direktorin von Nochlechka Moskau.
Und Daria fährt mit dieser idyllischen Beschreibung fort: Die Papiere der Obdachlosen würden nicht beschlagnahmt und sie hätten die Möglichkeit, jederzeit aus freien Stücken zu kündigen, gemäss den vom Gesetz und vom Arbeitsvertrag vorgesehenen Bestimmungen.
Tatsächlich passiert aber sehr oft genau das Gegenteil: Diese Arbeitshäuser sind eigentliche Sklavenlager.
Es wäre schön, wenn ich mich täuschen würde, fügt sie an, aber bis heute haben weder ich noch meine Kollegen von solchen idyllischen Arbeitshäusern gehört oder solche gesehen.
Die Leute werden dort gegen ihren Willen eingesperrt, die Gehälter sind miserabel, zwischen 400 Rubeln (4 CHF) und 1200 Rubeln (12 CHF), wenn sie denn überhaupt ausbezahlt werden. Oft werden von diesen Jammerlöhnen noch die Kosten für Verpflegung und Unterkunft abgezogen.
Im Allgemeinen gibt es keine Ruhetage, die Arbeitszeiten sind endlos, die Verpflegung ist miserabel, die Schlafsäle sind nicht mehr als ein Wetterschutz, ereifert sich Daria Baibakova.  

Unter Gewaltanwendung
Igor bestätigt die Ansicht Darias. Als ich zum ersten Mal versuchte zu fliehen, haben mich die Wärter erwischt und mich vor allen anderen Sklavenarbeitern schlimm verprügelt.
Sie haben mich mit einem Militärgürtel geschlagen, draussen, wo es heiss war, damit die verbrannte Haut an der Sonne aufspringt, erzählt Igor, immer noch traumatisiert von diesem schrecklichen Erlebnis.
Ich dachte, ich würde dort sterben, Die Lagerwärter gaben mir keine Medikamente, nur mit schwarzem Pfeffer versetzten Wodka.
Ich konnte schliesslich fliehen dank einem Mitbewohner, der hinausgeworfen wurde, weil er an Tuberkulose erkrankt war.
Der Mann konnte die Leute von Nochlechka informieren, die mich dann befreiten.

Und die Behörden?
Der Staat bzw. die Polizei schliesst meistens die Augen, obwohl Russland im Jahr 1956 das Übereinkommen über Zwangs- oder Pflichtarbeit unterschrieben hat. 2014 wurde dieses Übereinkommen ergänzt durch ein Protokoll, das neue Einschränkungen bei der Anwendung von Zwangsarbeit eingeführt hat.
Im Dezember 2023 hat die Duma (das russische Parlament) ein neues Arbeitsgesetz verabschiedet, das nach und nach in Kraft tritt. Die meisten Bestimmungen ersetzen jene des Gesetzes von 1991 und sind im Prinzip seit dem 1. Januar 2024 in Kraft.
Das Kapitel 13 des Gesetzes von 2023 behandelt den Kampf gegen illegale Arbeit. Sie wird folgendermassen definiert: «Jede berufliche Tätigkeit, die unter Verstoss gegen das gesetzlich festgelegte Verfahren zur Formalisierung von Arbeitsverhältnissen ausgeübt wird.»
Diese Definition der illegalen Arbeit berücksichtigt jedoch nicht, dass die Anstellung nicht nur durch einen Arbeitsvertrag abgeschlossen werden kann, sondern auch durch einen zivilen Vertrag.
Gemäss Elena Serebrjakova, juristische Forschungsbeauftragte am Institut für Politische Studien in Strassburg, kann diese neue Bedeutung, die der Begriff «illegale Anstellung» erhalten hat, zu einer unklaren Interpretation der Normen führen. Es ist verfrüht, die Wirksamkeit der neuen Massnahmen vorauszusagen, die zum Ziel haben, die Ausbeutung zu bekämpfen, ergänzt sie.

Nochlechka hat mehr als einmal diese Machenschaften angeprangert, aber vergeblich. Es steht zu befürchten, dass viele Beamte die Augen davor verschliessen, nachdem sie bestochen worden sind.

Vorbeugen
Am 30. Juli, dem internationalen Tag gegen Menschenhandel, veranstaltet Nochlechka wieder einmal eine Informationskampagne veranstaltet. Sie informiert die obdachlosen Sans-Papiers über die Risiken, die sie eingehen, wenn sie den Anwerbern mit ihren verlockenden Versprechungen auf den Leim gehen oder wenn sie den verführerischen Kleinanzeigen, die in der Umgebung der Bahnhöfe hängen, Glauben schenken.
Diese Informationen sind umso wichtiger, als obdachlose Sans-Papiers heutzutage nicht nur Zielscheibe zwielichtiger Unternehmer auf der Suche nach Arbeitskräften sind, die ausgebeutet werde können. Auch die Armee interessiert sich für die Obdachlosen; sie sucht Freiwillige, die bereit sind, an vorderster Front für die Heimat zu sterben. Siehe folgenden Artikel.

Immer wieder viel zu viele
Gemäss den Angaben der IAO soll es im Jahr 2024 mindestens 27 Millionen Sklaven auf der Welt geben. 
Die Menschen, die unter Zwangsarbeit stehen, sollen vielfältigen Arten von Zwängen unterworfen sein, wovon die absichtliche und systematische Zurückhaltung von Löhnen einer der häufigsten ist. Zwangsarbeit setzt den Kreislauf von Armut und Ausbeutung fort und verletzt die Menschenwürde. Wir wissen heute, dass sich die Situation nur noch weiter verschlechtert hat, erklärte Gilbert F. Houngbo, der Generaldirektor der IAO in einem Communiqué.

Bei Nochlechka machen wir alles, um zu verhindern, dass obdachlose Sans-Papiers Opfer solcher Menschenhändler werden.

Danke, dass Sie uns weiterhin unterstützen. Unsere Aufgabe ist riesig. Wir retten Leben.

Wichtig: Trotz des Boykotts kann unsere finanzielle Unterstützung fortgesetzt werden.

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