Obdachlose im Krieg

Sie sagen, dass es für die Obdachlosen psychologisch einfacher sei, für ihr Land zu sterben als auf der Strasse zu leben.
Sie? Die Unterstützer der russischen Armee. Sie stellen sich jedoch nicht die Frage, in welchem Zustand die Obdachlosen zurückkommen.
Unter all diesen armen Kerlen, die zu oft gegen ihren Willen in Kanonenfutter verwandelt wurden, klärt die Schilderung von Albert Rachimov, einem langjährigen Obdachlosen mit schmerzlicher Vergangenheit, die verkannte Realität auf.

Gewaltsam
Man weiss wenig über die Rekrutierung der Obdachlosen.
Man findet Anwerber, Vermittler aller Art, auf den Bahnhöfen, in den Gaststätten, auf bestimmten Plätzen und auch in öffentlichen Parks.
Gemäss einem Gerücht hat die Polizei in Moskau im Oktober 2022 obdachlose Sans-Papiers abgeführt, habe einen Bus gefüllt und sie in ein Rekrutierungszentrum überführt, das für diesen Zweck im Hof des Moskauer Museums eröffnet wurde.
Es geschiet auch, dass diese Agenten in den Unterkünften für Obdachlose auftauchen. Aber nicht systematisch. Es scheint, dass es von der Laune des Militärkommandanten der Region abhängt, erklärt uns der Verantwortliche der Stadt Ufa.
Oder auch, wie in St. Petersburg, wo über hundert Obdachlose an die Front gesandt wurden.
Gerüchte? Tatsachen? Schwierig zu verifizieren.
Eines ist jedenfalls sicher, viele dieser obdachlosen Soldaten sind nach ihrer Rückkehr von der Front wieder obdachlos und befinden sich auf der Strasse, falls sie überhaupt zurückkommen.

Nützlich an allen Fronten
Die behinderten Obdachlosen sind ebenfalls ausbeutbar.
2023 haben ältere Leute, die in einem Haus des privaten Netzes Noah lebten, gelernt, Tarnnetze zu produzieren.
Vor dem Neujahr 2024 hat Marina Achmedova, Mitglied des UN-Menschenrechtsrats, Vladimir Putin erklärt: „wie jene, die kürzlich ein asoziales Leben führten, glücklich und nützlich wurden…
Dies stellt gemäss ihr einen andern Beweis des Vorteils dar, die zivile Gesellschaft zu mobilisieren.
Der Koordinator der Arbeitshäuser „Noah“, Sergei Byzin, bedankt sich bei Frau Achmedova. Aber er bestätigt zu diesem Thema, dass der Staat bedeutungslose Schichten bevorzugt und bestreitet nicht, dass die Obdachlosen an den Kriegsanstrengungen beteiligt seien.

Im Fleischwolf von Bachmut
Im Februar 2023 habe ich meine Fühler auf dem Rekrutierungsfeld ausgestreckt, ich habe in Bahnhöfen und in gewissen Restaurants mit Sicherheitsagenten Gespräche geführt. Ich habe sie gefragt, welche Art von Uniform und welche Ausbildung ich erhalten würde, falls ich mich verpflichten würde, erzählt Albert Rachimov.
Rachimov hatte Angst, wegen seines infolge des monatelangen Überlebens auf der Strasse schlechten Gesundheitszustands nicht akzeptiert zu werden.
Aber sie haben mich mitgenommen und mich nach vierzehn Tagen in der Nähe von Bachmut abgesetzt. Ich war nicht darauf vorbereitet, solch gewalttätige Szenen zu ertragen. Ich versorgte die Soldaten in ihren Schützengräben mit Munition, hauptsächlich mit Gewehrpatronen. Was für ein fürchterlicher Anblick.
Die Stadt ist nichts als Rauch, Gebell von Maschinengewehren, Kanonensalven, überall Sterbende, Tote, der Feind 20 Meter nah, sehr laut. Sie haben keine Zeit, daran zu denken, man eilt, das Adrenalin ist ihr einziger Motor.

Zurück aufs Startfeld
Ich habe die erste und zweite Nacht nicht geschlafen. Tagsüber habe ich gekotzt wegen dem, was ich sah. Am besten verschafft man sich ein Scharfschützengewehr, damit können Sie überall herumrennen, erklärt Albert Rachimov. Schlussendlich ist der Waffentyp unwichtig, Sie nehmen, was erhältlich ist, nehmen sie von einem Toten. Welche Waffe Sie immer wollen, nehmen Sie sie, sogar einen Panzer, falls Sie ihn fahren können. Wichtig ist, zu töten und sich zu verteidigen.
Ende April wird Albert Rachimov verletzt. Eine Kugel durchschlägt seine Brust, Blut begann, in seinen Hals zu fliessen. In einem Spital von Lugansk wurde Albert Rachimov gerettet und anschliessend in die Stadt Sergiev Passad zur Erholung gesandt.
Ein Monat später wurde ich entlassen, darauf bin ich auf die moskauer Strasse zurückgekehrt.

Die Strasse als Schutz
Rachimov sitzt mir gegenüber. Er lacht manchmal völlig unpassend. Rachimov scheint ganz anderswo zu sein, völlig losgelöst von der Realität, erzählt Maria Muradowa, Sozialassistentin bei Nochlechka Moskau.
Albert Rachimov fährt mit seiner Erzählung weiter: Meine erste Geste als Zivilperson war, Vodka zu kaufen. Und seither vertrinke ich meinen Sold, den ich für die Dienste am Vaterland erhalten habe.
Ich will die Augen nicht mehr schliessen, denn Albträume tauchen auf, sagt er, ein Schlachtfeld, der Körper eines Kameraden aufgeschlitzt, Blut, Ströme von Blut, Leichen, unzählige verwesende Leichen, und dieser Geruch von Aas, ich werde dies nicht mehr los.

Keine Hilfe für die Dramatisierten
Im Januar 2023 hat das russische Parlament das Gesetzesprojekt für die kostenlose psychologische Unterstützung für die ehemaligen Kämpfer abgelehnt.
Die Massnahme wurde als „überrissen“ beurteilt. Ein Monat später, anlässlich der Diskussion der posttraumatischen Belastungsstörungen PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) in der Staatsduma, hat sich der Rektor des Institutes für Psychoanalyse in Osteuropa, Michail Reschetnikov, über die durch die Presse verbreitete „Hysterie“ beklagt.
Michail Reschetnikov hat erklärt, dass in der Hälfte der Fälle die Symptome der PTBS von selbst verschwinden… Unter anderem hat er dazu aufgerufen, die russischen und amerikanischen Erfahrungen nicht zu vergleichen: die Russen kämpfen traditionellerweise für ihre Häuser, ihre Frauen und Kinder, ihre Kultur und ihre Identität, während die Amerikaner ungerechte Kriege auf ausländischen Territorien führen.

Der Krieg, eine Obdachlosenfabrik
Es gibt für Russland keine solchen Daten, aber gemäss den Zahlen der amerikanischen Verwaltung wurde in den USA ein Viertel der ehemaligen Kämpfer obdachlos.
Bevor diese Leute zurück an der Front gingen, bildeten sie in der Regel eine Risikogruppe: sie hatten keine Familie, keine höhere Ausbildung, kein geregeltes Einkommen oder waren bereits obdachlos.
So war es sicher auch in Russland.
Zumindest stellt Nochlechka die Verbindung zwischen den von der Front zurückkehrenden Soldaten und der Zunahme von Überlebenden auf der Strasse, die Hilfe benötigen, sicher.
Nochlechka bemüht sich auch um die Veteranen des Krieges in der Ukraine.
Nochlechka hat Albert Rachimov ins Gemeinsame Zentrum für soziale Wertorientierung in Moskau gesandt, wo sich ein Psychologe um seine schweren Traumata kümmert. Seither haben seine halluzinatorischen Visionen nachgelassen.
Heute lebt Albert Rachimov in unserem Empfangszentrum und wartet darauf, dass er einen ruhigeren Alltag wiederfindet.
In Russland ist Nochlechka eine der wenigen NGO, die den obdachlosen Sans-Papiers hilft.
Danke, dass Sie uns weiterhin unterstützen, unsere Aufgabe ist riesig. Wir retten Leben.
Wichtig: trotz der Boykott-Massnahmen gelingt es uns immer, ihre finanzelle Unterstützung zu transperieren.

 

 

 

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