Noch schlimmer

Es ist schrecklich, eine obdachlose Frau zu sein. Wie soll sie sich auf der Strasse wehren?
Unser Alltagsleben ist an und für sich schon sehr unsicher. Dazu kommt noch, dass wir die ganze Zeit auf der Hut sein müssen vor den Männern, die auch obdachlos sind, erzählt Mascha, 42 Jahre alt, die wir bei Nochlechka getroffen haben.

Die unsichtbare weibliche Obdachlosigkeit
Viele unserer weiblichen Schutzsuchenden haben Gewalt und andere traumatisierende Erfahrungen erlebt, erklärt Daria Baibakova, die Direktorin von Nochlechka in Moskau.
Das Umherziehen führt zu grosser Verwundbarkeit. Der obdachlosen Person fehlen viele sichere Zufluchtsorte, was bei ihr ein Gefühl der Unsicherheit und des mangelnden Selbstvertrauens erzeugt.

Das ist besonders bei obdachlosen Frauen der Fall, welche ausserdem noch oft eine Form von sexistischer Gewalt erleiden.

Ein ungenauer Prozentsatz
Es ist schwierig, den Prozentsatz der obdachlosen Frauen zu beziffern, betont Evgenia Kuziner, Doktorandin an der HSE und Forschungspraktikantin am Studienzentrum für die Jugend.
In der Tat sind nicht nur die Statistiken bezüglich der Obdachlosigkeit wenig zuverlässig, fährt sie fort. Dazu kommt, dass eine Frau, die auf der Strasse lebt, dazu neigt, sich möglichst unsichtbar zu machen.
Aus nachvollziehbaren Gründen der Sicherheit, aber auch aus Eitelkeit, die immer eine Rolle spielt, gibt es zahlreiche Frauen, die auf ihr Äusseres Wert legen. So ist es einfacher, sich als eine “Nicht-obdachlose Person” auszugeben und sich auf diese Weise zu schützen, erklärt die Forscherin.

Berücksichtigt man die Anzahl Personen, die sich an die NGOs richten, lässt sich bestätigen, dass im Jahre 2021 79% der Obdachlosen, die sich bei Nochlechka gemeldet haben, Männer waren und 21 % Frauen.
Ähnliche Zahlen nennt auch Sergey Levkov, der Direktor der NGO Charity Hospital in Sankt Petersburg.
Im Jahre 2021 haben sich 927 Obdachlose an uns gewendet, davon waren 207 Frauen, also 22 %, stellt Levkov fest.

Doppelt stigmatisiert
Die Obdachlosigkeit erzeugt eine Menge von Stereotypen, betont Daria Baibakova. Diese widersprechen dem traditionellen Bild der Frau als Ehefrau und Mutter. Diese negative Überlagerung führt zu einem starken Druck seitens der öffentlichen Meinung und darüber hinaus zu einer Selbststigmatisierung der obdachlosen Frau, sagt uns Evgenia Kuziner.
Ausserdem haben viele obdachlose Frauen Kinder, zu denen sie jeden Kontakt verloren haben.
Viele haben Schuldgefühle, weil sie denken, sie seien als Frauen ihren eigenen Ansprüchen nicht gewachsen gewesen und hätten auch die Erwartungen der Gesellschaft nicht erfüllen können.

Für solche Frauen ist es am schwierigsten, Hilfe zu akzeptieren. Sie bemühen sich noch stärker, ihre Obdachlosigkeit zu verstecken, sie fühlen sich noch mehr von der Gesellschaft diskriminiert und stigmatisiert, erklärt Daria Baibakova.

Geschunden und geschlagen
Wie alle Frauen brauchen jene ohne Obdach spezifische medizinische Betreuung, präzisiert Sergey Levkov vom Charity Hospital.
Leider bieten die staatlichen Institutionen dieser Bevölkerungsgruppe nichts an. Unsere Ärzte und Ärztinnen und unser Pflegepersonal behandeln so gut wie möglich gynäkologische Probleme sowie Syphiliserkrankungen und betreuen auch Schwangerschaften. Sie stellen manchmal auch fest, dass ein schlechter gynäkologischer Zustand die Folge von HIV sein kann, das sich zu AIDS entwickelt hat, weil es nicht rechtzeitig entdeckt worden ist.

Besser als nichts
Selbstredend sind unsere Behandlungen nicht gleich qualifiziert wie diejenigen einer Klinik, aber es ist immerhin etwas.
Wir bemerken ebenfalls, dass Fehlgeburten bei obdachlosen Frauen nicht selten vorkommen. Es ist klar: auf der Strasse leben bedeutet in einem aggressiven Umfeld leben, das für eine Schwangerschaft alles andere als ideal ist, sagt Levkov weiter.
Das Überleben auf der Strasse greift den Körper der Frauen stark an. Die obdachlosen Patientinnen haben sehr oft keine Regelblutungen mehr. Die Unterkühlung, die geschwächte Immunität und die Alkohol- und/oder die Drogensucht tragen zu diesen verschiedenen Befunden bei.

Häusliche Gewalt
Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass kein Dach über dem Kopf zu haben für eine Frau in keiner Weise bedeutet, dass sie weniger häusliche Gewalt erfährt.
Oft haben obdachlose Frauen Partner. Zu zweit versuchen sie, sich gegenseitig zu stützen und die unzähligen Schwierigkeiten, die mit der Obdachlosigkeit verbunden sind, zu überwinden.
Bei unserer Arbeit stellen wir fest, dass Frauen Aggressionen ausgesetzt sind, die man als häusliche Gewalt bezeichnen kann, sagt Sergey Levkov. Das ist natürlich ein Widerspruch, da ja gar kein Haus vorhanden ist.
Aber Gewalt gibt es trotzdem
.
Wie bei allen Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben, stellt man auch bei obdachlosen Frauen immer wieder die gleiche Reaktion fest, nämlich die erlittene Aggression kleinzureden oder zu negieren.
Wenn man Gewaltspuren auf dem Körper einer obdachlosen Frau entdeckt, wird sie eher behaupten, dass sie sich irgendwo angeschlagen habe oder hingefallen sei, als zuzugeben, dass in Wirklichkeit ihr Partner ihr eine Flasche über den Kopf geschlagen hat.

Ein besonderer Aufnahmemodus
Um die Traumata, die die Frauen auf der Strasse erlebt haben, zu bekämpfen, hat Nochlechka spezielle Sprechstunden eingeführt.
In unserem Empfangsraum haben wir nämlich festgestellt, dass sich unsere Patientinnen in der Gegenwart von Männern sehr oft unwohl fühlten, betont Daria Baibakova.
Wenn wir dann mit ihnen sprachen, berichteten sie uns über ihr von Männern verursachten Traumata.
Wir haben deshalb unsere Sprechzeiten angepasst und Räume organisiert, zu denen nur Frauen Zugang haben.
Das verbreitete sich schnell durch Mund-zu-Mund-Propaganda.
Seitdem kommt eine grössere Anzahl von Frauen zu uns, um Hilfe zu empfangen, unsere Duschen zu benutzen und von unserem Wäschedienst zu profitieren.
Wir machen unser Möglichstes, aber unsere Mittel sind sehr beschränkt. Der Staat müsste auch Verantwortung übernehmen…
Es gibt nämlich in diesem Land kaum Sozialdienste, die spezifisch auf obdachlose Frauen zugeschnitten sind, ereifert sich Daria.

Das Sammeln von Büstenhaltern
Um den internationalen Frauentag zu feiern, haben wir eine Sammlung von Büstenhaltern veranstaltet, damit unsere obdachlosen Frauen sich wohler fühlen.
Dieses Kleidungsstück ermöglicht ihnen, sich als vollwertige Frauen zu fühlen, es erhöht ihr Selbstvertrauen und trägt zu ihrer Sicherheit und ihrer Gesundheit bei.
Es ermöglicht eine Rückkehr zu einem würdevollen Dasein, was so viele dieser Frauen dringend nötig haben, sagt Daria Baibakova.

Alle unsere humanitären Aktionen brauchen Ihre Unterstützung.
Danke für Ihr Vertrauen. Es rettet zahlreiche Leben.

Wichtig: Trotz der Tücken des Boykotts ist es uns immer noch möglich, unsere Unterstützungsbeiträge zu überweisen, die heute noch notwendiger sind als früher.

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