Nina, ein Kriegsopfer

Grossmama Nina hält sich im Gang zwischen den Frauen- und den Männertoiletten auf und raucht eine Zigarette nach der anderen. Ihre Augen wirken auf mich riesig und hervorstehend, ihre Hand hängt ganz schlaff, wie leblos, herunter und berührt beinahe den Boden. Das schreibt uns Nora, Journalistin der Nowaja Gaseta, die sich auf Wunsch von Nochlechka auf dem Platz der drei Bahnhofe eingerichtet hat, wo sie Tag und Nacht mit den Obdachlosen der Gegend in Kontakt kommt.
Heute stellt sie uns Nina vor, eine Zeugin des schrecklichen Dramas, das die Ukraine auf beiden Seiten der Front trifft.
Grossmutter Nina ist 86 Jahre alt und erzählt, dass sie im Sommer 2023 nach Moskau gekommen sei, nachdem das Haus ihrer Enkel in der Region Luhansk bombardiert worden war.

Eine Explosion, und dann war nichts mehr
Ich besuchte meine Enkelkinder. Es war der Geburtstag meiner älteren Enkelin und ich habe Geschenke für sie gekauft. Als ich dort war, schaute ich wie immer nach, ob der Kühlschrank nicht allzu leer war. Wie gewöhnlich fehlte es an allem, oder an fast allem. Ich ging zum Laden, der sich gerade an der Strassenecke befand, erzählt Nina und wird immer leiser.
Und bumm, eine fürchterliche Explosion! Dann war nichts mehr. Keine Enkelkinder mehr, keine Eltern mehr. Einfach nichts.
Ich bin geflohen, habe alles verlassen, es war mir unmöglich zu bleiben. Was auch immer geschehen mag, ich will nichts mehr. Ich habe alles verloren. Meine Enkelkinder sind tot, mein Schwiegersohn ist tot, meine Tochter ist tot.
Dass ich meine Enkel verloren habe, ist furchtbar, meine Enkeltöchterchen, die ich so lieb hatte. Sie können das vermutlich nicht verstehen. Wir hatten gute Nachbarn, die auch tot sind. Wir hatten einen schönen Hof, einen grossen Gemüsegarten, wir hatten alles. Alles wurde ausgelöscht. Alles.

Die Toiletten als Unterschlupf
Auf den Toiletten ist es eindeutig kälter als auf den oberen Etagen. Ich habe Handschuhe angezogen, betont die Journalistin.
Das ist bisher noch nie passiert, stellt Khadycha fest, die mich begleitet. Zum ersten Mal haben sie die Heizung abgestellt. Sie bekämpfen uns und wollen uns verjagen, fügt sie an.
Nina, wohnst du allein in den Toiletten?
Nun ja, was sollen wir machen? Es ist hart für mich. Ich könnte nicht raufgehen und draussen auf einer Bank schlafen. Ich habe Schmerzen in den Beinen, erklärt Nina.
Sie flüchtet sich in die Vergangenheit. Wenn das nicht passiert wäre, dann wäre ich nicht hier. Und man weiss ja auch nicht, wann das aufhört. Ich bin am Leningradski-Bahnhof angekommen und …. Bitte! Es ist besser, sich nicht zu erinnern, ich will mich nicht erinnern, es ist sehr schwierig für mich. Meine Nerven sind am Ende.

Von der Decke tröpfelt Wasser herab.
Sag mir, wie verbringst du den Tag?
Wenn möglich, schlafe ich tagsüber sitzend auf dem WC-Sitz. Also schlafen, das ist natürlich nur so ein Wort. Sie können sich ja vorstellen, was Schlaf in öffentlichen Toiletten bedeutet, mit endlosem Lärm, dem Ballett der Wasserspülung und der Sinfonie von übelriechenden Geräuschen. Glauben Sie, das ist ein Vergnügen? Dazu kommt noch, dass ich mir nicht die Beine vertreten kann an einem so engen Ort, in einer Kabine von einem Quadratmeter. Man friert und man muss auch aufpassen. Heute Morgen wollte ein Mann unter der Tür durchkriechen, sein grauer Bart berührte den Boden. Ich habe geschrien: Entweder hole ich die Polizei oder ich schlage dich zusammen. Er ist abgehauen. Man kommt ohnehin nicht unter der Türe durch, ein Kind vielleicht, aber für einen Erwachsenen hat es zu wenig Platz.

Grossmama Nina sagt, dass sie ihr ganzes Leben als Herzchirurgin gearbeitet habe. Im Donbass hatte sie eine gute Pension, aber hier in Moskau hat sie nur 9000 Rubel (88 CHF), und die gibt sie alle für Medikamente aus. Als die Explosion passierte, waren alle ukrainischen Dokumente weg. Nina hat einen russischen Pass erhalten. Sie sagt, dass sie, wenn sie noch einen ukrainischen Pass hätte, versuchen würde, eine Stelle zu bekommen in einem temporären Haftzentrum für Flüchtlinge.

Vorurteile, die aus einem anderen Leben stammen
Nina hat aus Luhansk ein paar langlebige Vorurteile mitgebracht. Sie streitet ab, eine Obdachlose zu sein, wie wenn sie gar nicht betroffen wäre. Und ihr Trauma trägt das Seine dazu bei.
Und wenn ich Ihnen ein Taxi bestellen würde, um Sie zu Nochlechka zu bringen, würden Sie einsteigen?
Niemals. Ich bin da. Ich bin lieber in der Kälte und habe Hunger als dorthin zu gehen. Sie versprechen zwar zu helfen, aber sie tun nichts. Ausserdem will ich nicht während langer Zeit neben anderen Obdachlosen Schlange stehen müssen, die dort elendiglich verkommen, Arme und Beine verlieren.
Nein, ich gehe nicht zum Nachtbus. Ich habe Schmerzen in den Beinen und ausserdem müssen sie mit ihren schmutzigen Händen kochen …
Und dazu kommt, dass man sich hier gegenseitig hilft. Heute hat der Mann, der die Männertoiletten reinigt, eine Suppe gekocht und mir auch davon gegeben. Ich habe sie soeben gegessen.
Wenn ich manchmal wirklich grossen Hunger habe, nehme ich all meinen Mut zusammen, schliesse die Augen und frage Khadycha, ob sie mir helfen könne und mir etwas zu essen geben könne.
Und es gibt auch andere Leute, die mich unterstützen. Es gibt freundliche und gute Menschen, aber sie sind nicht sehr zahlreich. Sie kommen und sagen: «Lassen Sie sich doch helfen!» Sie kaufen mir etwas, zum Beispiel eine billige Torte, und gehen wieder.
Vielen Dank dafür, das ist immerhin etwas. Was will man da sagen… Aber ich schäme mich immer noch, Leute anzubetteln. Und all diejenigen, die hier in den Läden arbeiten, kennen mich ohnehin schon gut. Ich bin mit allen höflich und streite nie mit jemandem.

Wo ist Grossmama Nina?
Während ich Grossmama Nina interviewe, versammeln sich mehrere Leute um uns herum: Reisende, die die Toiletten benutzen, Sicherheitsangestellte und andere Obdachlose. Alle hören aufmerksam zu, was die alte Frau erzählt.
Mit der Zeit wird Nina müde und begibt sich in Richtung der Frauentoilette. Ich werde mich ausruhen, das Stehen tut mir weh. Danke für alles, sagt sie noch und geht zu ihrem Unterschlupf.

Vor einem Monat fühlte sich Nina unwohl, es war das Herz. Die Toilettenfrau rief die Ambulanz. Seither hat niemand mehr Grossmama Nina gesehen.

In Moskau und in Sankt Petersburg gibt es abertausende solcher Ninas, Veras und Khadychas. Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken.

Wichtig: Trotz der gegen Russland verhängten Sanktionen ist es uns immer noch möglich, Ihre Unterstützungsbeiträge zu überweisen.

 

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