
Ein Fotograf wirft mit seiner Kamera einen Blick auf die menschliche Verletzlichkeit, erklärt die Fotografin Maria Gelman in Bezug auf das Fotografieren von Obdachlosen.
Die Dokumentarfotografin Maria Gelman lebt und arbeitet in Sankt Petersburg. In ihren persönlichen Projekten erkundet sie Fragen der Genderidentität, der Sexualität, der Körperlichkeit, der Gewalt und der Diskriminierung.
Maria Gelman hat in Sankt Petersburg den Nachtbus von Nochlechka begleitet und erzählt uns von ihren Erlebnissen.
In der Nacht
Spät am Abend kamen wir an der Haltestelle bei der Metrostation Primorskaja an. Menschen, die aus der Ferne kaum zu erkennen waren, nur winzige Punkte, nahmen allmählich Gestalt an und verwandelten sich in grosse Figuren vor dem Hintergrund des warmen, hellen, orangefarbenen Lichts der Strassenlaternen. Ein starker Rauchgeruch hängt in der Luft und vermischt sich mit den übrigen Gerüchen des Quartiers. Auf uns warten obdachlose, arme Frauen und Männer.
Die Konfrontation
Verletzliche Menschen zu fotografieren ist nicht einfach. Glauben Sie nur nicht, dass es möglich ist, sich hinter einer Kamera zu verstecken. Es braucht viel Takt und eine gewisse Diskretion, wenn man das so sagen kann. Auch wenn der Buschauffeur die Leute fragt, ob ich sie fotografieren darf und ihnen den Zweck meiner Arbeit erklärt, spüre ich, dass es ihnen schwerfällt, nein zu sagen. Einige weigern sich kategorisch, aber im Allgemeinen murmeln sie eine vage Zustimmung. Sie zu fotografieren verdeutlicht ihre Verletzlichkeit. Manchmal kann ein Obdachloser auch aggressiv reagieren.
Sie glauben, dass man sie vor allem deshalb fotografiert, weil sie arm sind. Das stimmt natürlich. Zwar dienen diese Bilder dazu, die Bevölkerung zu sensibilisieren, aber sie helfen Nochlechka auch dabei, Geld für humanitäre Aktionen zu sammeln.
Ich verstehe, dass unser Tun leicht als eine Form von Gewalt verstanden werden kann, wenn es uns nicht gelingt, Empathie zu zeigen, wenn wir die Tiefe des Blicks des Gegenübers nicht erfassen können. Den Schmerz des Menschen zu spüren, ihn wie einen eigenen zu empfinden, das erfordert emotionale Intelligenz, eine innere Bereitschaft, Nähe zu schaffen ohne zu zerstören, betont Maria Gelman.
Das Unverständnis
Oft erlebte ich Grobheiten und Drohungen, einfach nur deshalb, weil ich eine Kamera in den Händen hielt. Es tut weh, solche Situationen auszuhalten.
Ich glaube, dass der Grund dieser Reaktionen die Angst davor ist, lächerlich gemacht und stigmatisiert zu werden. Mehr als einmal habe ich gehört: “Sie werden sich über dich lustig machen, sie werden dich wie ein Monster auf einem Plakat abbilden. Sie benutzen uns und verdienen Geld mit unserem Elend.”
Hinter all dem steckt viel Schmerz und Erschöpfung. Den Anderen zu verstehen ist oft eine undankbare und unbequeme Arbeit. Es braucht Geduld und Menschenliebe, sagt Maria Gelman weiter.
Darüber sprechen
Für Nochlechka ist die Arbeit von Fotografinnen, Filmemachern und Journalistinnen von grösster Bedeutung. Sie tragen wesentlich dazu bei, die soziale Notlage, gegen die wir seit so langer Zeit täglich ankämpfen, bekannt zu machen.
Die Medien helfen uns, unsere Botschaft zur Obdachlosigkeit zu verbreiten: die obdachlosen Sans-Papiers sind vor allem Opfer eines bürokratischen Systems.
Natürlich ist es wichtig, dass sich Fotografinnen und andere Medienschaffende in Situationen, in denen sich die menschliche Schwäche zeigt, professionell verhalten. Es ist nicht allen gegeben, mit Arbeitsgeräten herumzuhantieren und dabei so diskret und respektvoll wie möglich zu sein, betont Andrei Tschapajew, der Verantwortliche der humanitären Aktionen.
Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, Hoffnung zu schenken.
Wichtig: Trotz der Boykottmassnahmen ist es uns weiterhin möglich, Ihre finanzielle Unterstützung weiterzuleiten.