
Eine obdachlose und papierlose Frau zu sein, ist eine doppelte Qual. Ihre Obdachlosigkeit ist oft die Folge von innerfamiliärer Gewalt. Das Leben auf der Strasse ist dann die einzige Möglichkeit, der Brutalität zu entkommen. Auf der Strasse ist sie jedoch anderen Gefahren ausgesetzt. Es ist nicht nur schwierig, als Obdachlose zu überleben, eine Frau ist auch ein beliebtes Ziel verschiedener Misshandlungen.
Eine erschreckende Welt
Marina ist 45 Jahre alt, hat grauweisse Haare und lebt seit beinahe zwei Jahren auf der Strasse. Sie erzählt ihren Leidensweg. Er gleicht demjenigen vieler anderer Frauen, sei es in Sankt Petersburg oder in Moskau.
Ich floh vor meinem Mann, weil er mich schlug. Wissen Sie, meine Haare sind von einem Tag auf den andern weiss geworden. Es war ein Schock, völlig verloren auf der Strasse zu stehen und in der Stadt umherzuirren.
Ich habe in einem verlassenen Wohnhaus Unterschlupf gefunden. Andere Obdachlose hausten schon dort. Es hatte wenigstens ein Dach und Mauern, die uns vor Unwetter schützten. Hingegen gab es nichts gegen den Hunger, gegen die Beengtheit, den Schmutz und den fürchterlichen Mangel an Hygiene. Von den körperlichen, sexuellen und psychischen Angriffen will ich gar nicht sprechen. Es war unglaublich hart, ein ständiger Kampf.
Die Vergessenen
Zu oft glaubt man, dass die Obdachlosigkeit für Männer und Frauen das gleiche Martyrium sei. Auch Nochlechka hat eine gewisse Zeit gebraucht, bis der Verein begonnen hat, Frauen speziell zu betreuen.
Die Unsichtbarkeit der obdachlosen Frauen erklärt sich dadurch, dass sie versuchen, ihr Unglück zu verbergen und keine Hilfe zu beanspruchen, so wie es viele gewöhnliche Frauen auch machen. Erschwerend kommt aber hinzu, dass sie auf der Strasse leben, erklärt Dr. Sergej Levkov vom Charity Hospital.
Heute ist es zu einem wichtigen Anliegen von Nochlechka geworden, der fehlenden Aufmerksamkeit, an der obdachlose Frauen leiden, zu begegnen. Ein Paradigmenwechsel hat stattgefunden, welcher der Verantwortlichen von Nochlechka Moskau, Daria Baibakova, zu verdanken ist.
Die Obdachlosigkeit führt zu einer starken Verletzlichkeit. Einer obdachlosen Person fehlen viele soziale Bezugspunkte. Das erzeugt ein Gefühl der Unsicherheit und des mangelnden Selbstvertrauens, betont Daria.
In vermehrtem Masse trifft dies auf obdachlose Frauen zu, die zudem besondere Bedürfnisse haben und immer wieder sexistischen Angriffen ausgesetzt sind.
Deshalb bieten wir seit mehreren Monaten spezielle Selbsthilfegruppen an, die nur für Frauen bestimmt sind, erklärt Daria Baibakova weiter.
Diese Frauen gibt es
In diesem Zusammenhang verfasste Nochlechka eine Broschüre für obdachlose und papierlose Frauen, die in den Aufnahmezentren, in den Überlebenszelten und an den Haltestellen des Nachtbusses verteilt werden, aber auch sonst überall in Moskau und Sankt Petersburg, wo die Mitarbeitenden von Nochlechka auf solche Frauen stossen.
Die Broschüre bezeichnet die Haltestellen des Nachtbusses und informiert über die Möglichkeiten, Spezialisten, Sozialarbeiterinnen, Psychologen oder Anwältinnen von Nochlechka zu treffen. Die Frauen erfahren auch, wo sie duschen oder ihre Kleider waschen können. Sie sollen wissen, dass wir spezielle Räume haben, die nur für Frauen bestimmt sind.
Der Prospekt erwähnt auch, dass es Zimmer für sie gibt, dass wir Präservative, Schwangerschaftstests, Binden, Unterwäsche und Kleider abgeben.
Er informiert schliesslich darüber, dass wir bereit sind, ihnen zu helfen im Falle einer Schwangerschaft, einer Gewaltsituation oder, wenn sie aus der Prostitution oder einer Abhängigkeit herausfinden wollen.
Nur für Frauen
Das Wichtigste für uns ist, dass keine Frau sich ängstigen oder sich schämen muss, und vor allem, dass sie in einer schwierigen Lebenssituation mit ihren Problemen nicht mehr allein bleiben muss. Die obdachlosen Frauen sollen sich sicher fühlen und ihre Selbstachtung wiedererlangen, erklärt Daria.
Um gegen das Trauma anzukämpfen, das solche Frauen in Gesellschaft von Männern erlitten haben, hat Nochlechka einen speziellen Stundenplan nur für obdachlosen Frauen aufgestellt.
Das hat sich herumgesprochen. Seither kommt eine grössere Zahl von Frauen, um sich helfen zu lassen und um die Duschen und den Wasch- und Coiffeurservice zu benützen.
Ausserdem hat Moskau ein Rehabilitationszentrum für Drogen- und Alkoholabhängige eröffnet. Die maximale Aufenthaltsdauer beträgt sechs Monate. Das Projekt basiert auf den Prinzipien des Vereins der Anonymen Alkoholiker.
Sankt Petersburg hofft, dieses Jahr ebenfalls ein solches Zentrum zu eröffnen, falls es die Finanzen erlauben.
Es gibt tausende von Frauen, die auf der Strasse überleben müssen. Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken. Der Winter ist immer noch da.
Wichtig: Trotz des Boykotts ist es uns möglich, Ihre finanzielle Unterstützung weiterzuleiten.