Ohne jeglichen Zweifel ist der Winter für die Obdachlosen voller Gefahren. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es ist, unter diesen Bedingungen zu überleben, betont Maria Kalinkina, eine Freiwillige bei Nochkechka.
Ist er eingeschlafen, tot?
Mascha Kalinkina erinnert sich an den Abend, an dem sie sich zum Nachtbus begab. Es war dunkel, ich wusste nicht, ob dieser dunkle Fleck auf dem Gehsteig eine Jacke war. Aber er ging mir nahe. War dies eine verlorene Person? Bei dieser Kälte schien mir dies schwer vorstellbar. Gedanken, die in weniger als einer Sekunde durch den Kopf gehen. Unter der Jacke, die ich aufhebe, ein menschliches Wesen, bewegungslos.
Der Mann rührt sich nicht. Soll ich ihn berühren, schauen, ob er lebt? Es ist schrecklich. Eine Begegnung, die nicht leicht ist. Wir sind nicht gewohnt, Unbekannte zu berühren. An diesen Moment erinnere ich mich noch, an diesen gefrorenen Körper. Ich bewege ihn ein wenig, schlüttle seine Schultern, nichts.
Ich spreche ihn an, nichts. War er erfroren, wie dies in unserer Stadt St. Petersburg bei den Obdachlosen oft geschieht?
Ich schüttle ihn heftiger und plötzlich fängt der Körper an zu murren und sich zu ärgern, dass er so geweckt wird. Der Mann ist besoffen. Er wankt, kreuzt flüchtig meinen Blick mit gläsernen Augen. Das Gesicht ist aufgedunsen. Zeitweise fällt die Figur in die Bewusstlosigkeit zurück.
Was tun? Ihn liegen zu lassen bedeutet den sichern Tod. Eine Ambulanz rufen mit der kleinen Chance, dass sie sich auf den Weg macht. Die einzige Lösung ist, den Nachtbus zu bitten, uns ausnahmsweise zu holen und den Unglückseligen zu einem unserer Überlebenszelte zu bringen.
Der Schnee als Leichentuch
Und vor zehn Tagen hat man mir vom Fall der Yana Alexandrowna berichtet, einer Frau in den Vierzigern, erinnert sich Mascha Kalinkina noch, auch sie inert auf der Strasse, in den Schnee gekuschelt, so als wäre er eine wohlig warme Bettdecke.
Zum Glück für Yana lag sie unweit unseres Überlebenszeltes und ein wohlmeinender Passant kam, um uns abzuholen. Yana war vollständig bewusstlos, es schien aber, dass sie keinen Alkohol zu sich genommen hatte. Sie befand sich im Zustand der fortgeschrittenen Unterkühlung. Man musste sie umgehend ins Krankenhaus bringen, um sie zu retten.
Über tausend Erfrorene im letzten Winter
Die von Mascha Kalinkina erzählten Fälle sind traurige Beispiele unter Hunderten von Obdachlosen, die das Drama täglich erleben, unterstreicht Andrei Schapaev, verantwortlich für die humanitären Aktionen bei Nochlechka.
Um die unerträglichen Bedingungen des Überlebens im Winter zu vergessen, trinkt der Obdachlose oft irgendeinen gefälschten Alkohol, fällt infolge der toxischen Wirkung in eine Starre und schläft ein, manchmal für immer.
Wegen der fehlenden Unterkünfte, fährt Andrei fort, bleibt diesen von der Verwaltung Vergessenen manchmal nichts anderes übrig, darauf zu warten, dass sie der weisse Tod davonträgt.
Seit über 15 Jahren errichten wir jeden Winter zwei Überlebenszelte. Angesichts der über 60’000 Obdachlosen ist dies offensichtlich ungenügend. Wir haben in vielen Fällen versucht, die Verwaltung zu überzeugen, ihre Ansicht und ihre Politik bezüglich der obdachlosen Sans-Papiers zu ändern, speziell im Winter.
Vergeblich.
Dass die Sozialabteilungen es ihnen erlauben, in den Empfangszentren Unterschlupf zu finden.
Vergeblich, folgert Andrei Schapaev verärgert.
Unterstützen wir die Überlebenszelte, helfen wir, Leben zu retten.
Vergangene Saison konnten wir Dank Ihnen 1’128 Personen schützen.
Wichtig: trotz der Boykott-Massnahmen gelingt es uns immer, unsere mehr denn je unverzichtbare Hilfe zu transferieren.