Vera und Andrej

Natalia, eine freiwillige Helferin, die sich um die obdachlosen Sans-Papiers bei Nochlechka kümmert, sagt: Erinnern wir uns an alle, die uns verlassen haben, dahingerafft von diesem brutalen, langen Winter.
Wir sind bloss ein paar Schritte vom Bahnhof Jaroslavski in Moskau entfernt, auf dem Platz der drei Bahnhöfe, ganz in der Nähe einer Haltestelle des Nachtbusses.
Die Ausgabe von warmer Suppe, von Tee und einigen Süssigkeiten lockern die bedrückende Stimmung ein wenig auf.

Auf Anfrage von Nochlechka hat Nora, eine Journalistin von Nowaja Gaseta, Tag und Nacht obdachlose Sans-Papiers aufgesucht, die auf diesen drei Bahnhöfen und in ihrer Umgebung leben. Nora berichtet uns von ihren Erlebnissen inmitten dieser russischen Bürgerinnen und Bürger, die in ihrem eigenen Land heimatlos sind.
Heute spricht Nora von Vera und ihrem Lebensgefährten Andrej.

Auf der Strasse
Was für Schicksalsschläge, ich kann es kaum glauben, ruft Vera aus. Jetzt sind es schon mehrere Jahre, dass ich auf der Strasse dahinvegetiere. Jeden Winter ist es dasselbe, Leidensgefährten werden von der Kälte dahingerafft. Was für ein Elend, fügt sie an.
In den vergangenen Jahren hatte ich drei Unfälle mit Herz-Kreislauf-Versagen. Das ist der Grund, weshalb ich manchmal Mühe habe, zu sprechen.

Vera ist 38 Jahre alt, hat blaue Augen, ein dünnes, trauriges Lächeln auf den Lippen, ein faltiges Gesicht und braune, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundene Haare.
Sie wurde in Kolomna geboren, ihr Vater ist früh gestorben und ihre Mutter war sehr krank. Als sie Waise wurde, hat sich die Grossmutter um sie gekümmert. Mit 18 Jahren verkaufte Vera das Haus der Familie und kaufte sich ein Zimmer in Ramenskoye, einer kleinen Stadt etwa 40 Kilometer von Moskau entfernt.

Vera fand dort eine Anstellung als Kassierin bei der Supermarktkette Pyaterochka.
In der neuen Gemeinschaftswohnung fand es Vera schwierig, mit den Nachbarn zu verkehren. Sie erinnert sich: Die Nachbarn liessen mich nicht leben und verjagten mich schliesslich. So stand ich plötzlich auf der Strasse und war völlig durcheinander.

Ein Kamerad
Da ich keine Unterkunft mehr hatte, wurde ich entlassen. Ich hatte ja keine Propiska mehr. Die kärglichen Ersparnisse schmolzen schnell dahin; bald war es nicht mehr möglich, in irgendwelchen Herbergen zu übernachten. Es gab nur das Leben draussen auf der Strasse, und zwar Tag und Nacht und zu jeder Jahreszeit. Ich hatte ja keine Propiska mehr.
Bei der Stiftung « Doktor Lisa » begegnet sie Andrej.
Andrej hilft Vera. Er bringt ihr Essen. Und eines Tages meldet er sich freiwillig um Vera zur nächsten Notfallstation zu begleiten, denn sie war soeben von einem Tram angefahren worden und hatte sich ein Bein gebrochen.

Andrej, warum hast du begonnen, ihr zu helfen?
Ich weiss es nicht, ich mochte diese Person, sie trinkt nicht, sie raucht nicht.
Vera und Andrej verbringen von nun an ihre ganze Zeit zusammen. Sie ziehen an den Bahnhof Leningradski.
Es ist ein Ritual: Frühmorgens weckt Vera Andrej auf. Der Hunger hindert mich daran, weiter zu schlafen, sagt sie uns. Und wie jeden Morgen holt Andrej einen kleinen Wasserkocher und seine armseligen Vorräte aus einem abgenutzten Koffer hervor, kocht «Kascha» und Rollton-Instant-Nudeln.
Ich koche auch Tee oder Kaffee und bereite ein paar einfache Sandwiches zu. Nach dem Frühstück gehen wir wieder schlafen, erkärt Andrej.

Ein Kulturtag
Tagsüber begeben sich Vera und Andrej oft in die Bibliothek.
Wissen Sie, dort sind wir vor Unwetter geschützt. Ausserdem lesen wir gerne Bücher, oder surfen auf dem Internet, sagt Vera.
Manchmal verlassen wir auch die Bibliothek, um einen Spaziergang zu machen. Oder wir gehen eine Gemäldeausstellung besuchen, obwohl das nicht unbedingt Veras Ding ist, fügt Andrej an.
Gegen Abend kehren wir wieder zum Platz der drei Bahnhöfe zurück und laufen zur Haltestelle des Nachtbusses, wo wir eine warme Mahlzeit essen und einige kleine Einkäufe für das Frühstück des nächsten Tages tätigen, fährt Vera fort.

Was für ein Luxus!
Eines Abends, nach der Ausgabe der Lebensmittel durch Nochlechka, haben wir «South Park» auf meinem Handy angeschau. Und natürlich sprechen wir auch oft über unser früheres Leben, über die Träume, die sich zerschlagen haben. So, jetzt wissen Sie alles über unseren Alltag, sagt uns Andrej mit einem Lächeln.
Wenn wir uns mal streiten und allein sein wollen, geht einer von uns zu einem anderen Bahnhof. Eigentlich haben wir zwei Wohnungen, wie die reichen Leute.
Vera geht nicht gerne zu den Notschlafstellen, es ist ihr dort nicht wohl. Auch wenn es dort bequemer ist, beklagt sie sich darüber, dass sie dort niemanden kennt und lieber in den Bahnhöfen übernachtet.

Brutal
Für die Journalistin Nora war es ein Schock, als sie vom Tod Veras erfuhr.
Andrej rief mich an. Wissen Sie, sagte er mir, Vera war krank, sie hatte eine Enzephalopathie, eine Schädigung des Gehirns. Sie haben ja gesehen, wie sie manchmal die Kontrolle über ihren Bewegungsapparat verlor, ganz verschlossen und wie abwesend war und nur mit Mühe sprechen konnte. Unsere Lebensbedingungen und die Kälte haben natürlich das Ihre dazu beigetragen.
An jenem Morgen hat Vera mich nicht geweckt. Sie hatte nicht mehr Hunger, sie lag tot neben mir.
Alle, die sie gekannt haben, und auch andere Obdachlose haben Geld zusammengelegt, um ihr eine Grabstätte zu ermöglichen. Wir haben sie nach Kolomna gebracht und sie in Ehren bestattet, mit allem, was dazugehört. Es gab keine kirchliche Beerdigung, aber wir haben eine Kerze angezündet. Im Frühling werden wir das Grab einzäunen. Sie sehen: niemand wird vergessen, nichts ist vergessen, sagt Andrej zum Schluss.

Nächste Woche wird uns Nora von Khadycha erzählen, einer tadschikischen Frau, die übergewichtig ist und ein buntes Kopftuch trägt. Nora hat sie auf der Toilette des Leningradski-Bahnhofs angetroffen.

Im Jahr 2022 hat die Sterblichkeit unter den Obdachlosen zugenommen: 5’915 Personen sind in den Strassen von Moskau gestorben, d.h., doppelt so viele wie 2021. Insgesamt wurden in Russland in jenem Jahr 40’000 Todesfälle von Obdachlosen registriert, was der Bevölkerung einer kleinen Stadt, z.B. Torzhok, entspricht.

Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken. Erst recht jetzt, wo es hier immer noch Winter ist.

Wichtig: Trotz der gegen Russland verhängten Sanktionen ist es uns weiterhin möglich, Ihre Unterstützungsbeiträge zu überweisen.

 

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