Endlich kümmert man sich um uns. Es war an der Zeit, ruft Oksana aus, eine etwas angeheiterte Frau in den Dreissigern.
Nochlechka beachtet uns endlich, uns obdachlose und papierlose Frauen, verkündet sie feierlich.
Oksana steht an der Haltestelle des Nachtbusses und schwenkt ein soeben verteiltes Büchlein in der Luft: eine Zusammenstellung von Informationen, die sich an Frauen richtet, die auf der Strasse leben bzw. überleben.
Es war Zeit
Daria Baibakova, die Leiterin von Nochlechka Moskau, betont, wie wichtig es ist, sich speziell um die Frauen zu kümmern.
Während allzu langer Zeit haben unsere Aktionen keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht.
Vielleicht lag das daran, dass Obdachlosigkeit Frauen weniger betrifft als Männer (20%). Und vor allem sind Frauen diskreter und weniger sichtbar.
Aber trotz allem. Es gab keinen Grund dafür.
Nochlechka hat endlich beschlossen, wirklich für die Frauen zu sorgen, und zwar in Moskau und in Sankt Petersburg. Die Verteilaktion von Büstenhaltern, die wir vor kurzem durchgeführt haben, und heute diese Broschüre gehen in diese Richtung, sagt Daria Baibakova.
Ein unentbehrliches Werkzeug
Die neue Broschüre zeigt den Frauen, wo sich die Haltestellen des Nachtbusses befinden, sie informiert auch über die Möglichkeiten, unsere Spezialistinnen zu treffen, eine Sozialarbeiterin, eine Psychologin oder eine Anwältin.
Sie weist darauf hin, dass wir einen Raum haben, wo wir Frauen empfangen können, wo wir Präservative, Schwangerschaftstests, Binden, Unterwäsche und Kleider verteilen.
Sie gibt den Frauen auch Auskunft darüber, dass wir ihnen helfen wollen bei einer Schwangerschaft, bei Misshandlungen oder wenn sie sich entscheiden, aus der Prostitution auszusteigen, sagt Daria weiter.
Wir wollen, dass keine Frau Angst haben oder sich schämen muss. Und vor allem wollen wir, dass sie in einer schwierigen Lebenssituation nicht allein bleibt mit ihren Problemen.
Wir wollen, dass sich obdachlose Frauen sicher fühlen, betont Daria.
Der Überlebenskampf der Frauen ist noch härter als derjenige der Männer.
Einer der Hauptgründe der weiblichen Obdachlosigkeit ist die innerfamiliäre Gewalt. Um ihr zu entkommen, finden sich die Frauen sehr häufig auf der Strasse wieder.
Und dort erwartet sie eine weitere Art von Gewalt.
Die Gewalt in Form von Hunger, Promiskuität, Schmutz, fehlender Hygiene, Angst vor körperlichen, sexuellen und moralischen Aggressionen.
Bei diesen Frauen beobachtet man oft, dass sie die erlittene Aggression verharmlosen oder negieren, genauso wie es irgendeine andere Frau auch macht.
Sie haben also die Tendenz, ihr Unglück zu verbergen und keine Hilfe zu fordern, erklärt Dr. Sergei Levkov vom Charity Hospital.
Eine spezifische Betreuung
Um gegen diese Traumata anzukämpfen, sind spezielle Betreuungszeiten nur für Frauen eingeführt worden.
Daria Baibakova erklärt: Etwa vor einem Jahr sind wir uns bewusst geworden, dass unsere Kundinnen sich sehr oft unwohl fühlten in Gegenwart von Männern.
Als wir mit ihnen sprachen, sagten sie uns, dass sie generell Angst vor Männern hätten.
Wir haben also unsere Zeiten so angepasst, dass gewissen Stunden nur für Frauen reserviert sind.
Das hat sich rasch herumgesprochen.
Seither kommt eine grössere Anzahl von Frauen zu uns, um Hilfe zu erhalten, um unsere Duschen sowie unseren Wasch- und Coiffeurservice zu benützen.
Vielversprechende Resultate
Die Bedeutung des Tages der obdachlosen Frauen unterstreicht dieses Bedürfnis nach Privatsphäre. Dieser Tag gibt ihnen die Möglichkeit, für einen Moment aktiver zu sein.
Kürzlich hat sich eine Gruppe gebildet, die eine Wohnung für einige von ihnen gemietet hat und auf diese Weise eine gewisse Autonomie und vor allem eine Sicherheit erlangt hat.
Die Tatsache, die Räume nach Geschlecht aufzuteilen und sich spezifisch für die obdachlosen und papierlosen Frauen zu interessieren, hat deutliche Resultate gezeitigt.
Diejenigen Frauen, die kommen, sind eindeutig weniger verloren und weniger passiv. Sie sind bereit zu arbeiten und sich einzubringen.
Das ist eine Haltung, die man früher nur bei männlichen Obdachlosen beobachtet hat.
Wir machen, was wir können, aber unsere Mittel sind sehr beschränkt. Es wäre unbedingt nötig, dass der Staat seine Verantwortung wahrnehmen würde.
Es gibt praktisch keine staatlichen Einrichtungen in diesem Land, die sich speziell an obdachlose Frauen richten, empört sich Daria.
Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns dabei, mehr Menschlichkeit zu schenken.
Mehr als je brauchen wir ihre unersetzliche Unterstützung.
Wichtig: Trotz der Tücken des Boykotts ist es uns immer noch möglich, unsere Unterstützungsbeiträge zu überweisen.