Nichts ändert sich

Oder nur sehr wenig.
Die Obdachlosen essen zuviel und zu oft, sie sind faul und versuchen es nicht einmal, von der Strasse wegzukommen. Sie bemühen sich nicht, ihre amtlichen Dokumente zu erneuern, sie suchen keine Arbeit. So schwadronierte neulich eine rechtschaffene Moskauerin.

Willkürliche Diskriminierung
Am 30. März 2023, dem Tag der Obdachlosen in Russland, muss man feststellen, dass die Vorurteile weiterhin bestehen, trotz der immensen Anstrengungen, die Nochlechka seit 33 Jahren unternimmt. Die Zustände, welche die Obdachlosigkeit begünstigen, verändern sich ebenfalls kaum.

Die braven Bürgerinnen und Bürger suchen die Schuld überhaupt nicht beim Registrationsamt des Staates (МФЦ), welches die obdachlosen Sans-Papiers von seinen Diensten ausschliesst, sie regen sich nicht darüber auf, dass viele „Überlebende der Strasse“ kaum einen Schritt vor den anderen setzen können vor Erschöpfung oder wegen ihrer vielfältigen Gebrechen. Sie verziehen keine Miene, wenn diese armen Teufel keine Kopeke haben, um Arbeit zu suchen oder einen allfälligen Arbeitgeber anzurufen, wenn sie keinen Ort haben, wo sie sich waschen können, um anständig auszusehen, wenn sie sich an einem Arbeitsplatz vorstellen möchten.
All diese Tatsachen sind ihnen vollkommen egal.
Aber die braven Bürgerinnen und Bürger sorgen sich darum, dass unsere Obdachlosen zu wohlgenährt seien. Sie seien zu wohlgenährt! So spricht die Sozialarbeiterin Asya Suvorov voller Empörung.

Die Faktoren der Obdachlosigkeit
Das Durchschnittsalter der Obdachlosen beträgt 44 Jahre. 79,00% davon sind Männer, 21,00% Frauen. 87,11% sind russische Staatsbürger.
Welches auch immer die oft vielschichtigen Gründe ihres Unglücks sind, solche Menschen stehen sehr schnell auf der Strasse und verlieren somit ihre Propiska, die Gewähr für die staatlichen Sozialleistungen.
29,35% würden gerne in eine andere Stadt ziehen, um dort Arbeit zu finden, aber sie schaffen es nicht, 28,87% haben familiäre Probleme, 25,01% haben keine amtlichen Papiere mehr, 22,30% haben ihre Stelle verloren, 16,39% können ihre Miete nicht mehr bezahlen, 11,77% konsumieren Drogen, 11,18% sind krank oder leiden an Verletzungen, 8,52% sind Opfer von Betrug oder Erpressung, 8,36% kommen aus dem Gefängnis, 7,87% sind Opfer ihres Arbeitgebers, 4,72% stehen aus anderen Gründen auf der Strasse.
Wir haben all die oben genannten Prozentzahlen auf der Basis einer Pro-Bono-Studie des WCIOM (Russisches Meinungsforschungsinstitut) ermittelt.

Ein Obdachloser überlebt im Durchschnitt sechs Jahre auf der Strasse und stirbt auch meistens dort.
In Ländern, wo das Obdachlosenproblem angegangen wird, dauert die Obdachlosigkeit weniger als ein Jahr, da es dort ein gut entwickeltes und gut zugängliches Betreuungssystem gibt.
Heute hat sich das Obdachlosenproblem aufgrund der Invasion in die Ukraine massiv vergrössert: ein Drittel der Russinnen und Russen sind gefährdet und nahe daran, obdachlos zu werden.

Russe oder Russin sein, ohne es wirklich zu sein
Das erste Gesetz zur Staatsbürgerschaft entstand im Jahr 1991, es war sehr liberal, erklärt Elena Burtina, Analytikerin bei Civic Assistance. Elena ist eine von den Menschen, die seit Jahren für das Recht der Russen kämpfen, ihre Staatsbürgerschaft zu erhalten.
Damals war es leichter, die Staatsbürgerschaft zu erhalten als mit dem Gesetz, das im Jahr 2002 eingeführt wurde und heute in Kraft ist.
In der Theorie verlangte das frühere Gesetz zum Beispiel nicht, dass man eine Propiska vorweisen musste, um die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Aber in der Praxis war es schon damals unmöglich ohne Propiska. Und heute ist es erst recht unmöglich.
Wenn man nämlich keine Wohnung hat, gibt es keine Registrierung (Propiska), und wenn man nicht registriert ist, bekommt man keine Arbeit, und ohne Arbeit bekommt man keine Wohnung.
Dreissig Jahre später hat sich nichts geändert. Diese objektiven Schwierigkeiten verunmöglichen es den bedürftigen Bewohnern Russlands, sich auf gesetzliche Ansprüche zu berufen und vollwertige Bürger ihres Landes zu sein.

Welche Verleumdung!
Weil sie zu viel essen! Wie wagen sie es nur, das zu behaupten?
Wenn ich diese Verunglimpfungen der Obdachlosen höre, bin ich fassungslos, fährt Asya Suvorov fort. Und ich spüre den ganzen Tag über eine dumpfe Ohnmacht.
Und an anderen Tagen kommt der Optimismus wieder zurück.
Gestern Abend erhielt ich einen Brief von Veronika. Sie ist im 8. Schuljahr an einer Schule in Moskau. Sie hat ein Bildungsprojekt verwirklicht, ein technisches Modell für einen modularen Raum für die Obdachlosen. Man findet dort eine Dusche, eine Waschküche, ein Zimmer für die Sozialarbeiterin, ein Telefon und einen Informationsstand.
Der Raum ist kompakt, anpassbar, hell, modern und transportabel. So wie es sich Veronika ausgedacht hat, ist es einfach, solche modularen Räume in der ganzen Stadt einzurichten, so dass sie für jede obdachlose Person schnell und einfach zu erreichen sind.
Im Vorschlag von Veronika steckt so viel Menschlichkeit und Bemühen um die vernachlässigten Menschen, dass mir das einen enormen Energieschub gegeben hat, sagt Asya Suvorov.

Wie Veronika und wie das gesamte Personal von Nochlechka geben wir nie auf.

Herzlichen Dank für Ihr Vertrauen! Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit weiterhin!
Sie rettet zahlreiche Menschenleben.

Wichtig: Trotz der Tücken des Boykotts ist es uns immer noch möglich, unsere Unterstützungsbeiträge zu überweisen, die heute noch notwendiger sind als früher.

 

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