In Russland sterben die Obdachlosen 19 Jahre früher als die übrigen Bewohner des Landes, und zwar oft wegen Krankheiten, die eigentlich einfach zu heilen wären.
Ihre durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei ungefähr 54 Jahren, bei einem Normalbürger liegt sie bei 73 Jahren.
Schreckliche Daten
Nochlechka hat sich die Daten der Agentur Rosstat beschaffen können, welche die Mortalität der Obdachlosen betrifft. Die Zahlen sind aufschlussreich und zeigen, wie absolut notwendig es ist, die verschiedenen humanitären Aktionen der NGO zu unterstützen.
Daria Baibakova, die Direktorin von Nochlechka Moskau, sagt uns: Zum ersten Mal haben wir nicht nur die Zahlen zur Mortalität der Obdachlosen, aufgelistet nach den Regionen Russlands, sondern auch Daten zu den Todesursachen. Es handelt sich um wichtige Informationen, die wir bisher nicht hatten und dank derer wir von jetzt an genauer die Situation der Obdachlosen in der Russischen Föderation evaluieren können.
Ein Massensterben
Im Jahr 2023 sind siebenundfünfzigtausend vierhundertzweiundsechzig Obdachlose gestorben, was etwa 3 % aller Todesfälle in Russland ausmacht, erklärt Daria Baibakova.
Diese Zahlen entsprechen zum Beispiel der Bevölkerung der Stadt Workuta in der Republik Komi.
Die Obdachlosen sterben sehr viel häufiger als gewöhnliche Menschen an äusserlichen Ursachen wie Verkehrsunfällen, Unfällen im Alltag, Suiziden, allerlei Verletzungen oder, weil sie extremen Temperaturen ausgesetzt sind.
Sterblichkeit, einfach gemacht
Wir wissen es, ohne Propiska ist es unmöglich, sich behandeln zu lassen. Für einen obdachlosen Sans-Papiers gibt es keine medizinische Behandlung.
Falls man keine Identitätspapiere hat, gibt es nach Gesetz nur eine Möglichkeit, eine medizinische Behandlung zu erhalten, und zwar mithilfe eines Rettungswagens. Der Rettungswagen kommt allerdings erst dann, wenn der Zustand des obdachlosen Sans-Papiers so kritisch ist, dass sein Leben in Gefahr ist.
Wenn ein solcher Mensch schwer krank ist, aber sein Zustand noch nicht lebensgefährlich, kommt keine Ambulanz. Weil sie keine Möglichkeit haben, einen Arzt aufzusuchen, sind Obdachlose viel gefährdeter als andere, an einer Krankheit zu sterben, die normalerweise selten zum Tode führt.
Die Sterblichkeitsrate
Daria Baibakova erklärt weiter: Auf der Grundlage der von Rosstat erhaltenen Daten haben wir das Konzept der «Sterblichkeitsrate» der Obdachlosen eingeführt.
Wir haben auch die Regionen der Russischen Föderation entsprechend ihrer Sterblichkeitsrate eingeteilt. Dabei haben wir diejenigen Regionen hervorgehoben, bei denen die Situation am bedrohlichsten scheint.
Die Sterblichkeitsrate ist ein mathematischer Wert, der im Wesentlichen eine Kombination der folgenden Indikatoren ist:
- die Zahl der Todesfälle bei den Obdachlosen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Todesfälle
2. die Unterschiede in Bezug auf das durchschnittliche Alter der Obdachlosen beim Todesfall im Vergleich zur übrigen Bevölkerung
3. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod eingetreten ist durch 1) äusserliche Ursachen, 2) Krankheiten des Verdauungsapparates, 3) Krankheiten des Atmungssystems, 4) Infektionen und Parasitenbefall im Vergleich zur Bevölkerung.
Die zehn Regionen, in denen das Leben für die Obdachlosen am gefährlichsten ist:
- Region Krasnodar
2. Sankt Petersburg
3. Region Magadan
4. Region Moskau
5. Moskau
6. Region Nowgorod
7. Region Riazan
8. Region Samara
9. Region Murmansk
10. Region Ivanowo
Fazit
Den mit Abstand höchsten Wert findet man in der Region Krasnodar. Das Risiko, an äusserlichen Ursachen zu sterben, ist in dieser Region für die Obdachlosen 43-mal höher als für die übrigen Bewohner.
76 % aller verstorbenen Obdachlosen aus dem Gebiet Krasnodar sind an äusserlichen Ursachen gestorben. Der Grund dafür liegt vermutlich zum Teil darin, dass diese Region wie viele andere ein ernsthaftes Problem mit den Arbeitsbedingungen in den Unternehmen und in der Landwirtschaft hat, wo die Versklavung der obdachlosen Sans-Papiers oft eine wichtige Quelle für Arbeitskräfte ist. Siehe Artikel
In den touristischen Städten kann man die hohe Sterblichkeit dadurch erklären, dass die Behörden um jeden Preis die Obdachlosigkeit verstecken wollen.
Die Obdachlosen werden von den touristischen Zentren ferngehalten und vergessen, wodurch es für sie schwieriger wird zu überleben.
In dieser traurigen «Bestenliste» sind die Leader der Klassifizierung Moskau und Sankt Petersburg, touristische Städte par excellence.
Im Jahr 2023 sind in Moskau mehr als fünftausend Obdachlose umgekommen.
Das bedeutet, dass die Massnahmen, welche die Stadtregierung von Moskau letztes Jahr vor dem Beginn der Kälteperiode ergriffen hatte, nicht funktioniert haben.
In Sankt Petersburg hat die Sterblichkeitsrate um den Faktor 1,5 zugenommen: im Jahr 2023 sind 1’532 Obdachlose gestorben, im Jahr 2022 waren es 1’005.
Nein zum weissen Tod
Angesichts dieser Fakten haben wir zusammen mit anderen russischen NGOs, die sich um obdachlose Sans-Papiers kümmern, den folgenden dringenden Appell an die Regierenden gerichtet:
“Ergreifen Sie unbedingt vor dem Beginn der kalten Jahreszeit Massnahmen, eröffnen Sie geheizte Auffanglager, die allen Menschen zugänglich sind, und achten Sie nicht darauf, ob die Identitätspapiere fehlen. Richten Sie medizinische Zentren ein, wo alle obdachlosen Sans-Papiers behandelt werden, wo sie Untersuchungen machen lassen und Ärzte konsultieren können.
Das ist für jede Region eine einfach zu realisierende Aufgabe. Schauen Sie nicht weg, retten Sie zehntausende Menschenleben. Handeln Sie jetzt.”
Ist das denn nicht die Hauptaufgabe des Staates, fragt sich Daria Baibakova?
Unsere humanitäre Arbeit ist riesig. Danke dass Sie uns weiterhin unterstützen. Wir retten Leben.
Wichtig: Trotz des Bankenboykotts wird unsere finanzielle Unterstützung weitergeführt.