Seltsamerweise sind in Russland die individuellen Rechte nicht an die Person gebunden, sondern an ihren Wohnsitz. Ohne Wohnsitz (Propiska), gibt es auch keine administrativen Rechte. Eine Person ohne Propiska darf unter anderem nicht legal arbeiten und keine Wohnung mieten. Deshalb gerät sie sehr schnell in die Obdachlosigkeit.
Die Zahlen von 2024
In Russland soll es 2’130’000 Obdachlose geben.
Ihr Durchschnittsalter liegt bei 49 Jahren.
77% davon sind Männer, 23% Frauen.
Die Obdachlosigkeit betrifft die Frauen ebenso wie die Männer, doch die Frauen bitten nicht so oft um Unterstützung. Daher werden sie in den Statistiken weniger stark berücksichtigt.
Die Unsichtbarkeit der obdachlosen Frauen ist eine Hauptsorge von Nochlechka.
Es kommt sehr selten vor, dass ein einziger Grund dazu führt, dass jemand auf der Strasse landet. Meistens ist es eine Reihe von unglücklichen Umständen, die zum Verlust der Wohnung führen.
Im Laufe dieses Jahres haben wir eine Umfrage bei unseren obdachlosen Sans-Papiers durchgeführt und nach den Ursachen ihrer Obdachlosigkeit gefragt. 7’947 Personen haben geantwortet.
Wir stellen eine Zunahme der Obdachlosigkeit fest, die vermutlich im Krieg gegen die Ukraine begründet liegt.
249’000 Obdachlose in Moskau
67’000 Obdachlose in Sankt Petersburg
80% der Obdachlosen sind russischer Nationalität
74% hatten einen Beruf
44 % hatten eine Arbeit
44% sind weiterhin mit ihren Angehörigen in Kontakt
40% sind weder alkohol- noch drogenabhängig
25% waren schon mal im Gefängnis
15% sind im Rentenalter
9% haben mit einem Diplom abgeschlossen und haben Kinder
9% sind Waisen
Schulbildung
42 % habe eine spezialisierte sekundäre Ausbildung erhalten
25 % haben eine sekundäre Ausbildung erhalten
20 % haben eine höhere Ausbildung erhalten, diese aber nicht abgeschlossen
8 % haben eine nicht abgeschlossene sekundäre Ausbildung
0,5 % haben die Primarschule besucht
0,5 % haben überhaupt keine Schulbildung
0,4 % haben nicht geantwortet
Gründe der Obdachlosigkeit
14 % Familiäre Probleme
Häusliche Gewalt, familiäre Konflikte oder unehrliches Verhalten von Familienangehörigen verunmöglichen es oft, dass eine Person bei sich zuhause wohnen kann. Sie flüchtet sich vor solchen Problemen und landet schliesslich auf der Strasse.
13 % Umzug infolge von Arbeitssuche
Viele Leute ziehen in die grossen Städte, wenn es zu wenige gut bezahlte Arbeitsstellen in der Herkunftsregion gibt oder wenn der Lohn nicht ausreicht, um die eigenen Grundbedürfnisse und diejenigen der Familie zu befriedigen. Aber nicht immer verläuft alles nach Plan. Eine Person kann bei der Ankunft Opfer eines Diebstahls werden, ihre Stelle verlieren, z.B. weil sie nicht für die Stelle geeignet ist, vom Arbeitgeber betrogen wird oder einen Unfall erleidet. In solchen Fällen landet sie auf der Strasse.
12,5 % Verlust der Wohnung
Man kann die Wohnung verlieren, weil Mieterhöhungen zu hoch sind, weil man wegen Krankheit oder wegen Betrugs die Stelle verliert oder weil man zu wenig Erspartes hat. Ohne Angehörige, die einem helfen, wird man schnell obdachlos.
11% Verlust der Identitätspapiere
Ohne Identitätspapiere kann man offiziell keine Stelle finden und sich auch nicht vor den Betrügereien eines Arbeitgebers schützen. Man kann auch keine Wohnung finden, in eine andere Stadt ziehen usw. Das Fehlen der administrativen Identität beeinflusst in grossem Mass die Zukunft einer Person. Das ist einer der Hauptgründe der Obdachlosigkeit.
10,5% Verlust der Arbeitsstelle
Niemand ist gegen den Verlust seiner Stelle gefeit: ein Unternehmen kann schliessen, ein Arbeitgeber kann betrügen und den Lohn nicht auszahlen. Wenn jemand immer wieder erkrankt oder einen Unfall erleidet, so kann das auch zum Verlust der Stelle und der Wohnung führen. Und dann steht man auf der Strasse.
5,5 % Sucht
Gemäss dem bekannten Stereotyp sind Drogen und Alkohol verantwortlich für die Verwahrlosung eines Menschen und somit der Grund seiner Obdachlosigkeit. Doch die jährlichen Statistiken belegen, dass sie im Allgemeinen nicht die Ursache, sondern die Folge sind. Meistens beginnt jemand erst dann süchtig zu werden, wenn er oder sie bereits auf der Strasse lebt: Der Alkohol und auch Drogen helfen vermeintlich dabei, sich in der Kälte zu wärmen und schwierige Momente zu vergessen.
5 % Krankheiten und Verletzungen
Eine kranke oder eine verletzte Person ist in ihrer Arbeitsleistung beeinträchtigt. Wenn schwerwiegende gesundheitliche Probleme vorliegen, ist es ihr unmöglich, für den Lebensunterhalt aufzukommen. Die Situation kann sich noch verschärfen, wenn keine Ersparnisse da sind und keine Angehörigen, die in der Lage wären, eine finanzielle Unterstützung zu leisten. Zuerst verliert man die Arbeitsstelle, dann die Unterkunft und schliesslich steht man auf der Strasse.
4,7 % Betrug und Erpressung
Infolge betrügerischer Handlungen kann eine Person ihre Wohnung und/oder ihre Ersparnisse verlieren. Meistens sind die Opfer alleinlebende Menschen, die niemanden haben, an den sie sich wenden könnten, um Hilfe zu bekommen. Sie landen dann auf der Strasse.
Weitere Gründe
3% Verurteilung zu einer Gefängnisstraffe – 2,8% Der Wunsch zu reisen oder in eine andere Stadt zu ziehen – 2,8% Verkauf einer Wohnung – 2,5% Hintergehung des Arbeitgebers – 2 % abgebrannte oder verfallene Unterkünfte – 1,6% Diebstahl oder Betrug – 1,5% aus einem Waisenhaus entlassen zu werden – 0,9% erzwungene Migration – 0,8 % Ausweisung aus einer Sozialwohnung – 0,8% militärische Intervention – 0,6 % Nachbarschaftskonflikte – 0,3 % Beschlagnahmung der Wohnung wegen Schulden –3 % andere Gründe
Das Total der Prozentzahlen dieser Untersuchung ist höher als 100%, da mehrere Ursachen einen Menschen obdachlos machen können.
Herkunft dieser Statistiken
Es ist unmöglich, sich auf die offizielle Volkszählung von 2020-2021 zu verlassen. Sie zählte nur 32 Obdachlose.
Im Jahr 2024 führten die Marktforschungsgesellschaft Validata zusammen mit Nochlechka eine Untersuchung zu den Obdachlosen in Russland durch.
Ausserdem sammelt die Organisation Nochlechka Informationen auf der Basis ihrer verschiedenen humanitären Aktionen und von verschiedenen NGO, welche sich um diese Gruppe von Menschen kümmert.
Mehr Informationen finden Sie im Tätigkeitsbericht von Nochlechka aus dem Jahr 2024 (vorläufig noch in russischer Sprache).
Für alle zusätzlichen Informationen kontaktieren Sie bitte info@suissesolidaire.org.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind wir eine der wenigen ausländischen NGO, die Obdachlose und Sans-Papiers in Russland unterstützen. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schaffen.
Wichtig: Trotz der Boykottmassnahmen ist es uns weiterhin möglich, Ihre finanzielle Unterstützung weiterzuleiten.