Denunziationen

Wenn Sie Obdachlose aufspüren, kontaktieren Sie den Sicherheitsdienst des Bahnhofs oder rufen Sie die Polizei.
Seit kurzem soll eine solche Durchsage mehrmals pro Tag in einigen Bahnhöfen Moskaus zu hören sein.
Dies bringt Daria Baibakova, die Direktorin von Nochlechka Moskau, völlig aus der Fassung.

Es ist empörend
Das Wort «aufspüren» im Zusammenhang mit notleidenden Menschen ist äusserst beleidigend und arrogant. Es wird meist dann benutzt, wenn es sich um Kriminelle oder verdächtige Pakete handelt.
Obdachlos zu sein ist kein Verbrechen. Die Verantwortlichen dieses Aufrufs sprechen von einer Person wie von einem Zielobjekt, das aufgespürt und an irgendeinen Ordnungsdienst weitergeleitet werden muss, sagt Daria voller Empörung.
Diese Aufrufe sind ein Beispiel einer Repression, die eine obdachlose Person der Gefahr einer Wegweisung oder gar einer Verhaftung aussetzt.
Ich möchte versuchen zu erklären, weshalb solche willkürlichen Praktiken zur Reduktion der Obdachlosenzahl schädlich sind und nie zu einer Lösung des Problems führen werden, sagt Daria Baibakova weiter.

Ein Zwang
In der Soziologie verwendet man den Begriff der sozialen Kontrolle. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der das Verhalten der Leute reguliert. Keine Gesellschaft kann ohne Normen und Verhaltensregeln funktionieren. Sie sind nötig, um die Ordnung und die Interaktionen zwischen den Menschen aufrechtzuerhalten.

Da solche Regeln unterschiedlich interpretierbar sind, können sie auch zu Missbrauch führen. So werden Methoden der sozialen Kontrolle oft im Zusammenhang mit Obdachlosen auf der Strasse angewendet, denn ihre Anwesenheit stört, ohne dass sich jemand fragt, weshalb sie überhaupt da sind.

In solchen Interaktionen befinden sich die Obdachlosen nie auf gleicher Höhe wie diejenigen, die sie stigmatisieren, betont Daria. Ein obdachloser Mensch ist schutzlos, verletzlich und abhängig.

Vorschriftsgemäss
Die soziale Kontrolle als Mittel zur Beeinflussung des Verhaltens basiert oft auf Zwang. Die beschuldigte Person hat keine Wahlfreiheit. Sie hat nicht das Recht, zu gehorchen oder sich zu weigern.
Das Beispiel der Ansagen in den Bahnhöfen von Moskau ist sehr klar. Es ist eine soziale Kontrolle auf der Basis von Denunziation, die jeden beliebigen Bürger sowie die Machtbefugnis der Polizei und der Bahnhofssicherheit miteinbezieht. Der Reisende, der die Anwesenheit eines Obdachlosen meldet, wird freiwillig Komplize dieser Repression.

Und die Wirkung?
Ermöglicht die Jagd auf die Ärmsten eine Verringerung der Obdachlosigkeit? So fragt Daria Baibakova. Die Antwort lautet: Nein, natürlich nicht.

Es gibt einen interessanten Artikel, der von sowjetischen Polizeiangestellten verfasst worden ist und die Wirksamkeit der Gesetze über das Schmarotzertum und die Landstreicherei in der UdSSR analysiert. Die Autoren kommen zum Schluss, dass die gesetzlich vorgesehenen Massnahmen die Obdachlosigkeit nicht verringerten. Sie führten aber zu einem Hin und Her für die Obdachlosen: Strasse – Gefängnis – Strasse. Denn in Ermangelung eines Unterstützungssystems hatten weder das Individuum noch der Staat eine Alternative zu diesem absurden Hin und Her.
Auch heute befinden wir uns beinahe noch am gleichen Ort.

Ganz offensichtlich lässt sich das Problem nicht dadurch lösen, dass die Leute von der Polizei aus den Bahnhöfen vertrieben werden. Aber das ist auch gar nicht die Absicht der Bahnbehörden. Sie wollen einfach, dass die Obdachlosen sich nicht auf den Bahnhöfen aufhalten.

Die Situation hat sich verschlimmert
Es ist eine Schande, dass die russischen Eisenbahnen die nötigen Mittel aufgebracht haben, um solche Durchsagen zu produzieren und auszustrahlen, dass sie Angestellte und Bahnreisende zu einer Zusammenarbeit mit der Polizei aufzufordern, die unwirksame und unmenschliche Methoden anwendet, welche der verarmten Bevölkerung in keiner Weise helfen, sagt Daria weiter.
Diese Geld hätte man dazu verwenden können, einen Raum zu schaffen, in dem ein Sozialarbeiter den bedürftigen Menschen mit Rat und Unterstützung beistehen könnte.
Wenn der Staat will, dass die Obdachlosigkeit abnimmt, müsste er in erster Linie Strukturen für die Aufnahme und die Wiedereingliederung schaffen und dann die wichtigste Ursache der Obdachlosigkeit angehen, die Registrierung der Bürgerinnen und Bürger.

Und vergessen Sie eines nicht, sagt Daria Baibakova zum Schluss: Wenn Sie die Durchsage hören «Wenn Sie Obdachlose aufspüren, kontaktieren Sie den Sicherheitsdienst des Bahnhofs oder rufen Sie die Polizei», ist es völlig unnötig, diese Instanzen zu benachrichtigen. Fragen Sie stattdessen die notleidende Person, welche Art von Hilfe sie benötigt und geben sie ihr einen Prospekt von Nochlechka mit.

Unsere Aufgabe ist riesig, helfen Sie uns  mehr Menschlichkeit zu schenken.

Wichtig: Trotz des Boykotts ist es uns weiterhin möglich, ihre finanzielle Unterstützung weiterzuleiten.

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