Selbst für die ewige Ruhe braucht es gültige Papiere.
Jura, ein obdachloser Sans-Papiers, wurde 33 Jahre alt. Nachdem er seine Stelle verloren hatte, stand er auf der Strasse. Wir haben uns im ihn gekümmert. Jura wurde krank. Wir haben ihn ins Spital gebracht, wo er verstarb.
Die Ausnahme
Gemäss russischem Gesetz hat jede Person Anrecht auf ein Begräbnis in einem Einzelgrab. Aber in Moskau haben nur dauerhaft am Wohnort angemeldete Bürgerinnen und Bürger dieses Privileg. Wenn der Verstorbene nicht angemeldet ist, sind es die Angehörigen oder andere Personen, die sich um das Begräbnis kümmern und es dann auch bezahlen müssen. Jura war in Moskau nicht angemeldet. Und wie steht es mit seiner Familie?
Wir wissen, dass Jura eine Grossmutter hat, die noch am Leben ist. Als Jura starb, versuchten wir sie ausfindig zu machen. Aber es ist uns nicht gelungen.
Wir standen demnach vor der Frage, ob wir die Bestattung von Jura auf unsere Kosten durchführen oder uns weigern sollten, so dass der Staat für die Beerdigung aufkommen müsste, auf Kosten der Steuerzahler. Wir wussten allerdings nicht, wieviel eine Beerdigung kosten würde. Und wir wussten ebenfalls nicht, wie wir das am besten handhaben sollten, erklärt uns Daria Baibakowa, die Direktorin von Nochlechka Moskau.
Das Grab der Unbekannten
Falls niemand bereit ist, die finanzielle Verantwortung einer Beerdigung zu übernehmen und niemand den Leichnam des Verstorbenen haben möchte, wird das Begräbnis auf Kosten der Moskauer Behörden durchgeführt, und zwar in bestimmten, zu diesem Zweck geschaffenen Sektionen der Friedhöfe.
Zuerst wird der Tote in einem temporären Grab in einer durch ein Eisengitter abgetrennten Zone bestattet. Dort wird dann eine Metallplakette angebracht mit der Nummer des Grabs, des Bestattungsdatums und der Registernummer. Zum Beispiel: N/F, Leichnam 8327, Leichenhalle 1, Büro 47, Nr. 805, 01/07/2024. Der Name fehlt.
Nach 5 Jahren, wenn sich niemand gemeldet hat, wird der Leichnam exhumiert, kremiert und in ein Gemeinschaftsgrab unter einer grossen Granitplatte beerdigt. In einem der Friedhöfe Moskaus steht auf einem solchen Grab: «Hier liegt die Asche der Toten und der Kremierten aus den Jahren 1999, 2000, 2001, 2002, 2003…» usw. bis 2015.
16 Jahre Begräbnisse. Kein einziger Name. Wie viele sind es wohl?
Die Menschenwürde
Jura war die erste Person, bei der wir an eine Beerdigung denken mussten, sagt Daria Baibakowa weiter.
Zu Beginn war ich sicher, dass diese Beerdigungen in anonymen Gemeinschaftsgräbern die Folge eines Irrtums der Friedhofsverantwortlichen waren. Ich konnte nicht glauben, dass das Gesetz es so vorsieht.
Aber nein, es entspricht genau dem Moskauer Gesetz. Alles ist rechtlich so vorgesehen, auch wenn die obdachlosen Sans-Papiers, rein theoretisch, in den anderen Regionen der Russischen Föderation nicht immer so behandelt werden.
Niemand verdient es, in einem Grab ohne Namen und ohne Erinnerung beerdigt zu werden, ohne dass es einen Ort gibt, wo Freunde und Familie der verstorbenen Person gedenken können. Das ist unmenschlich und entwürdigend, sagt Daria voller Entrüstung.
Gemeinsam
Wir haben uns entschieden, unsere Verantwortung wahrzunehmen.
Nochlechka hat die Bestattungskosten für Jura übernommen. Sie betrugen 80’000 Rubel (80 Franken).
Jura wurde in einem Friedhof in der Nähe von Moskau beerdigt. Tanja, die Sozialarbeiterin, hat die Kleider für Jura ausgewählt und ein Foto für den Grabstein, auf dem auch sein Name und seine Lebensdaten angebracht sind. Die obdachlosen Sans-Papiers unseres Aufnahmezentrums haben einen symbolischen Beitrag für einen Kranz und für Blumen bezahlt.
Am Tag der Beerdigung standen wir alle um sein Grab herum, Angestellte und Obdachlose, erzählt die Direktorin von Nochlechka weiter.
Gemeinschaftsgrab
In Moskau hat es Tausende, die unter dem Pseudonym NN bestattet werden. Nur schon im Jahr 2023 sind 5’032 Obdachlose verstorben.
Wir wissen nicht genau, wie viele Verstorbene es gibt, auf die niemand Anspruch erhebt. Aber das heisst nicht, dass die Namen der Verstorbenen nicht bekannt sind.
Selbst ohne Ausweis haben die obdachlosen Sans-Papiers Namen und Vornamen, viele kennen auch ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort. Jeder Verstorbene hat eine Identität, die seiner Umgebung bekannt ist. Aber für die Behörden genügt das nicht.
Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass die Behörden den obdachlosen Sans-Papiers eine Art Identitätskarte ausstellen, so ähnlich, wie wir das machen.
Das würde immerhin dazu führen, dass sie nicht als Unbekannte in einer Grube verscharrt würden.
Falls die Grossmutter von Jura einmal sein Grab sucht, hat sie wenigstens einen Ort, wo sie ihn finden kann, sagt Daria zum Schluss.
Unsere humanitäre Arbeit ist riesig. Danke, dass Sie uns weiterhin unterstützen.
Wichtig: Trotz des Bankenboykotts wird unsere finanzielle Unterstützung weitergeführt.