Alle können Opfer werden

Jeder Mensch, unabhängig von seinem Bildungsgrad, kann ein obdachloser Sans-Papiers werden, sagt uns Daria Baibakova, die Direktorin von Nochlechka Moskau.
Ein Satz, der den gewaltigen Arbeitseinsatz zusammenfasst, den die Direktorin und eine grosse Zahl Freiwilliger kürzlich unternommen haben: Sie haben nämlich die riesige Menge von Informationen, welche die Organisation Nochlechka in den 34 Jahren seiner Existenz zusammengetragen hat, in Form von Podcasts aufbereitet.

Von A bis Z, oder beinahe
Es ist kaum zu glauben! Ich sprach mehr als 25 Stunden lang über die Obdachlosigkeit, sagt Daria Baibakova lächelnd.
Podcasts über Obdachlose zu erstellen, war ein lang gehegter Traum und ein Fernziel. Und jetzt ist es befriedigend festzustellen, dass das Projekt verwirklicht werden konnte.
Es war nicht ganz einfach, Informationen in Form von Audio- und Videodateien im Web zu verbreiten. Die Umsetzung erforderte viele Zusatzstunden, wenn man in Betracht zieht, dass die täglichen Arbeitszeiten ohnehin schon gut ausgelastet sind.

Trotz meiner vollgestopften Agenda habe ich es gewagt. Zuerst erschien mir die Aufgabe schwer realisierbar, weil die Menge an Informationen, die sich in all den Jahren angesammelt hatten, enorm gross war.
Allein hätte ich es natürlich nie geschafft, erzählt Daria.

Sechs Monate ohne Unterbruch
Alles begann, als die Südliche Föderale Universität mit uns in Kontakt trat. In einem ihrer Studiengänge gibt es Kurse zur Obdachlosigkeit.
Der Mut und der Innovationsgeist dieser Universität ist zu loben, denn sie ist die erste Hochschule Russlands, die das Thema unter einer wissenschaftlichen Perspektive behandelt, und zwar im Lehrplan des Masterstudiums.
Sie haben uns angefragt, ob wir einige Vorträge zum Thema Obdachlosigkeit halten würden. Die Idee war somit geboren, und wir fanden, das sei die Gelegenheit, unseren Datenberg zu verarbeiten.
Eine Wahnsinnsherausforderung, die ich aber mit grosser Freude in Angriff nahm.
Während sechs Monate mussten für jeden Vortrag mehrere Studien gelesen werden, im ganzen waren es achtzehn, die man jetzt in Form von Podcasts vorfindet.
Nach und nach Daten zur Obdachlosigkeit aus der ganzen Welt zusammenzutragen, sie zu analysieren, die wichtigsten Themen auszuwählen, sie auf Folien zu übertragen, stundenlang mit Lena und Karina zu diskutieren, es nochmals neu zu machen, zu verbessern…. Wir waren nicht untätig.
Schliesslich wurden wir jeden Mittwoch live übertragen und erzählten den Studierenden alles, was wir erfahren und zusammengetragen hatten.

Ein Erfolg von uns allen
Ich kann es kaum glauben, dass gestern Abend die letzte Begegnung mit den Studierenden stattgefunden hat. Diese sechs Monate gingen wie im Flug vorbei, ohne irgendwelche Störungen oder Einschränkungen.
Man hört es ja oft, aber in diesem Fall fühle ich es selbst: Es ist verrückt, wie schnell die Zeit vergangen ist, so spannend war das Thema.
Es ist klar, dass wir es ohne die Unterstützung sehr vieler Freiwilliger nie geschafft hätten.
Die Arbeit dieser Menschen war von unschätzbarem Wert: Sie sammelten in ihrer Freizeit Material, suchten Daten zusammen und verifizierten sie, schenkten uns Energie und Dynamik, illustrierten die Texte, gestalteten die Präsentationen, empfingen die Gäste an den Vorträgen, servierten allen Tee. Wir durften sehr viel Grosszügigkeit erfahren, sagt Daria voller Bewunderung.

Was bedeutet Obdachlosigkeit?
Haben wir jetzt eine Antwort auf diese Frage?
Was ist Obdachlosigkeit? Und welches ist ihre Bedeutung in den verschiedenen Ländern?
Über welche Daten zur Obdachlosigkeit in Russland verfügen wir, welche sind wenig bekannt? Welches sind notwendige Daten, über die wir überhaupt nicht verfügen?
Welche Möglichkeiten gibt es weltweit, um die Anzahl der obdachlosen Personen zu erfassen? Und warum ist die Volkszählung in Russland nicht geeignet, um dieses Ziel zu erreichen?
Worin unterscheiden sich die Ursachen der Obdachlosigkeit in Russland, in den USA und in den skandinavischen Ländern?
Welche gesetzlichen Bestimmungen verstärken das Problem der Obdachlosigkeit in Russland? Und was kann man dagegen unternehmen?
Wieviel kostet die Obdachlosigkeit den Staat? Welche Methoden gibt es weltweit, um diese Kosten zu schätzen?
Wie hat sich in Russland die Wahrnehmung der Obdachlosigkeit als gesellschaftliches Problem vom 16. bis zum 20. Jahrhundert entwickelt? Und warum meint man, in der UdSSR hätte es keine Obdachlosen gegeben?
Wie beeinflusst die Lage der Frauen in Russland das Ausmass der weiblichen Obdachlosigkeit?
Welche Programme gibt es weltweit, um den Obdachlosen mit erwiesener Effizienz zu helfen?
Jetzt sind die Antworten auf all diese komplexen Fragen kostenlos zugänglich, jetzt bieten wir sie allen interessierten Menschen an, sagt die Direktorin von Nochlechka Moskau zum Schluss.
Hier finden Sie den Link zu den Podcasts.

Und denken wir daran: Jeder Mensch, unabhängig von seinem Ausbildungsniveau, kann ein obdachloser Sans-Papiers werden. Weder die Schulausbildung noch die gesellschaftliche Herkunft spielen dabei eine Rolle. Alle können obdachlos werden.

Es sind Hunderttausende. Unsere Aufgabe ist riesig. Danke, dass Sie uns helfen, Leben zu retten.

Wichtig: Trotz des Boykotts ist es uns weiterhin möglich, Nochlechka unsere finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Seite ist durch reCAPTCHA und Google geschützt Datenschutz-Bestimmungen und Nutzungsbedingungen anwenden.