Das Schicksal von Alexei Polyakov gibt uns einmal mehr einen Eindruck, wie in Russland einige Abweichungen vom normalen Tagesablauf jemanden auf den Weg zum Bürger zweiter Klasse führen können.
Das nachfolgend beschriebene Leben von Alexei ist Teil der Monologe „So laufen die Dinge“ der Journalistin Nastia Riabtseva.
Alexei Polyakov, 45 Jahre alt, Krankenwagenfahrer, erzählt uns folgendes:
Ich habe mich völlig einsam gefühlt
Ich bin 1970 in Leningrad geboren, zur Zeit des kommunistischen Regimes. Mein Vater starb, als ich zehn Jahre alt war und meine Mutter, als ich 24 war.
Am Tag, als ich sie so vorfand, hatte ich nur einen Gedanken: die Fenster zu öffnen, es war ein warmer Frühlingstag. Ich ging hinaus, bin in den Strassen umhergeirrt, habe Zigarette um Zigarette geraucht, bin in ein Geschäft gegangen, habe die Schaufenster angeschaut, habe die Meschenmengen gesucht. Nur nicht allein sein! Und trotzdem habe ich mich sehr schnell völlig einsam gefühlt.
Zu jener Zeit war ich jung verheiratet, meine Frau Wlada hatte eben Mascha zur Welt gebracht. Unsere Ehe ging in die Brüche, wir haben sehr bald geschieden. Ich habe versucht, den Kontakt aufrecht zu erhalten, Wlada und ihre Familie wollten aber nicht.
Wir waren glücklich
Ich habe Mamas Wohnung verkauft und mir eine neue in Pskov erworben.
Ich habe dort eine Frau getroffen. Wir haben 16 Jahre zusammengelebt. 1998 kam unsere Tocher Lena zur Welt. Ich habe die Wohnung auf ihren Namen eingetragen.
Wir waren glücklich. Dann brach ich den rechten Knöchel, drei Monate Nichtstun. Ich verliere meine Arbeit als Krankenwagenfahrer. Und dann endloses Dahinschleppen auf Krücken.
Mehr oder weniger genesen, muss ich auf einer Baustelle jeden Tag mit einem Schubkarren Sand transportieren. Dabei war ich doch Krankenpfleger.
2012 hat sich dann alles überstürzt.
Ich weiss nicht weshalb, aber die Erinnerungen an meine Mutter haben mich noch stärker als je zuvor verfolgt. Ich habe begonnen zu trinken. Ich habe sehr viel getrunken.
Ich habe alles verloren
Ich verlasse alles und beginne einen neuen Abschnitt, der mich ins Kloster zur heiligen Mariä Himmelfahrt in den Puschkin-Bergen führt. Mit dem Wegzug aus Pskov habe ich alles verloren, nicht nur meine Familie, sondern auch meine administrative Identität (Propiska).
Ich realisiere, dass ich das Leben von drei Personen zerstört habe, das meiner Tochter, das ihrer Mutter sowie meines. Vom Kloster kehre ich nach Pskov zurück. Niemand verzeiht mir, mein sozialer Absturz ist total, ich lebe auf der Strasse.
In Pskov gibt es wohl eine Institution für Obdachlose, dort herrschen aber die Flöhe und der Alkoholismus, es gibt keine Sozialhilfe. Ein bescheidener Saal muss für 20 Personen reichen, Grütze als Mahlzeit einmal pro Tag. Schrecklich!
Eine wenig orthodoxe Hilfe
Ich fliehe, ziehe weg nach Peter (St. Petersburg). Ich habe diese Stadt stets geliebt, nicht nur, weil ich hier geboren bin, sondern weil ich mich hier wohl fühle.
In Peter erhalte ich bei einer Cousine Unterschlupf. Ein totaler Misserfolg, ihre Wohnung ist klein und ihr Mann sowie die beiden Kinder wohnen ebenfalls dort.
Sehr bald verlasse ich sie und suche Zuflucht in der Kathedrale der Verklärung Christi. Ich habe um Hilfe gebeten, man hat mir die Adresse der orthodoxen Sozialwohnungen gegeben.
An diesem Ort kann man schlafen und erhält eine Schüssel Suppe, sofern man zustimmt, auf verschiedenen Baustellen ohne jeglichen Lohn zu arbeiten. Reine Ausbeutung.
Ich bin dort einen Monat geblieben, ich war tageweise eingemietet. Das einzige Geld, das ich erhielt, war für die Metro, um zur Arbeit zu fahren.
Eines Tages habe ich mich erinnert, dass es die Borowa 112B, die Adresse von Nochlezhka, gibt.
Borowa, 112 B
Vor drei Jahren sah ich am Fernsehen eine Sendung über diese Nichtregierungs-Organisation. Ich war überrascht, dass es in St. Petersburg eine solche Organisation gibt. Bei Nochlezhka hat man mir geholfen, echt geholfen. Ich konnte 20 Tage dort wohnen, man gab mir Kleider, ich konnte einen Arzt für mein Bein konsultieren, sie haben mir bei der Arbeitssuche geholfen und dabei, meine Papiere zurückzubekommen.
Ich weiss nicht, was aus mir geworden wäre, wenn es die Borowa 112B nicht gegeben hätte. Vielleicht wäre ich im Gefängnis. Ich wollte die orthodoxe Sozialhilfe nicht mehr erdulden, der Winter kam und ich wollte nicht draussen schlafen: ich war zu allem bereit, um an der Wärme zu sein….im Gefängnis.
Heutzutage lege ich einige Rubel beiseite, weil ich meiner Tochter Lena helfen will. Sie will Jura studieren. Ich habe sie wieder gesehen, sie macht mir keine Vorwürfe mehr.
Kürzlich hat mich Lena feierlich einem jungen Mann vorgestellt.