Lesen und überleben

Die Lektüre leistet mir Gesellschaft, sie ist mein spiritueller Zufluchtsort, erzählt Pawlow, den wir im Aufnahmezentrum in Moskau angetroffen haben.
Man könnte sich darüber wundern, wie viele obdachlose Sans-Papiers lesen, erklärt Daria Baibakowa, die Direktorin von Nochlechka in Moskau. Man meint, sie seien ungebildet, weil sie in der Strasse ums Überleben kämpfen. Aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Wie bei ihren Mitbürgern ist die Lektüre in diesem benachteiligten Milieu sehr präsent.

Schmöckern
Daria berichtet weiter: Neulich kommt Andrej klatschnass zu uns in den Warteraum. Draussen regnet es Bindfäden. Bevor er an irgendetwas anderes denkt, zieht er aus seinem Rucksack “Die Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens” von Bernard Werber hervor. Er zeigt das Buch herum und jammert: “Mein Buch ist völlig durchnässt vom Regen. Was für eine Katastrophe! Es sieht aus wie ein schleimiger Klumpen Papier.”
Im Warteraum treffen sich Obdachlose, um zu duschen oder ihre Kleider zu waschen. Während sie warten, hört man sie oft über Literatur sprechen.
Iwan verspricht, dass er morgen ein populärwissenschaftliches Buch über die Ursprünge der Welt mitbringt, “Das Schnippen mit einer Hand”. Ihr werdet sehen, dass es ein sehr gutes Buch ist, sagt er. Ich habe es in einem Abfalleimer gefunden.

Ein literarischer Zirkel
Oleg geht noch weiter: Ihr müsst wissen, dass ich in den Knast kam wegen meiner Liebe zum Lesen. Ich hatte keinen Rappen. Da habe ich in einer Buchhandlung sieben Kinderbücher über Tiere gestohlen. Ich wurde erwischt und verurteilt.
Andrej erzählt in der Runde, dass er kürzlich wieder mal Pikoul gelesen habe, einen der populärsten sowjetischen Autoren. Und er zählt Fakten aus der Biographie dieses Autors auf.
Warum ich ihn wiedergelesen habe? Ja, warum lesen Leute ein Buch zum zweiten Mal? Mit 27 Jahren habe ich Dostojewskis Roman “Der Idiot” gelesen. Ich war gerade so alt wie Fürst Myschkin. Und mit 64 Jahren habe ich ihn noch nicht wiedergelesen. Es ist Zeit, dass ich mich endlich daranmache.

Unsere Bibliothek
Aufgrund dieses Leseeifers haben wir schon vor sehr vielen Jahren in unserem Warteraum eine Bibliothek eingerichtet, sagt Daria Baibakowa weiter. Die Bücher kommen und gehen. Die Bevölkerung von Moskau und auch die Obdachlosen haben uns Bücher gebracht. Sie lassen die schon gelesenen Bände hier und nehmen neue mit. Es ist immer wieder beeindruckend zu sehen, wie schnell der Katalog unserer Bibliothek wächst.

Wenigstens das
Die Menschen, die auf der Strasse leben, begegnen im Alltag zahlreichen Problemen. Sie haben keine dem Wetter angepasste Kleider und keinen Platz, um sie zu verstauen. Sie haben weder Trinkwasser noch Nahrung noch eine Möglichkeit sich zu wärmen. Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und keine Ersparnisse.
Ein obdachloser Mensch fühlt sich nie in Sicherheit, er lebt immer in Angst. Aber zumindest kann er lesen. Dieses kleine positive Ritual steht allen offen,
sagt Daria Baibakowa zum Schluss.

Wir tun alles, um ihnen zu helfen. Unsere Aufgabe ist riesig. Unterstützen Sie uns, damit sie wieder Hoffnung schöpfen.

Wichtig: Trotz der Boykottmassnahmen können wir unsere finanzielle Hilfe weiterführen.

 

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