Arina sitzt auf einer Bank, ihr Kopf ruht auf der Schulter eines zahnlosen Typen. Arina hat in einem der vielen Wartesäle des Kasaner Bahnhofs eine Bleibe gefunden. Ich zeige ihr eine Foto von Khadycha, die ich am Tag zuvor gemacht hatte. Das schreibt Nora, Journalistin bei der Nowaja Gaseta. Sie ist auf Wunsch von Nochlechka in die Welt der Obdachlosen eingetaucht, die den Platz der drei Bahnhöfe in Moskau bewohnen.
Nach einer kurzen Unterbrechung nehmen wir ihre Reportagen wieder auf.
Heute erzählt uns die Journalistin von Baba Arina, einer Frau, die angibt, vierzig Jahre alt zu sein, aber 30 Jahre älter wirkt. Daher kommt ihr Übername Baba, Grossmutter.
Ein Räubernest
In Begleitung von Igor, einem Obdachlosen, der den Ort und seine Bewohner gut kennt, gehe ich durch den Kasaner Bahnhof auf der Suche nach Arina. Sie wurde in das von Nochlechka betriebene Wiedereingliederungszentrum für Frauen aufgenommen, aber später wieder rausgeworfen.
Schon seit einigen Tagen verfolge ich ihre Spur, aber ich finde sie nicht, erzählt die Journalistin. Der Kasaner Bahnhof befindet sich auf der anderen Seite des Platzes und ist durch einen langen unterirdischen Gang mit dem Leningrader Bahnhof verbunden. In diesem Tunnel findet man Alkoholiker, die von überallher weggeschickt worden sind und nirgends mehr bleiben dürfen, nicht mal unter ihresgleichen.
Der Kasaner Bahnhof ist riesig: Er bedient gleichzeitig zwei Hauptlinien, die Linie nach Kasan und die Linie nach Rjasan. Im Gegensatz zum Leningrader und zum Jaroslavler Bahnhof, deren Fassaden zur Sowjetzeit zerstört worden sind, hat sich der Kasaner Bahnhof seit seiner Entstehung wenig verändert. Er ist düster und feucht. Man wähnt sich in einer weitverzweigten Grotte mit zahlreichen Gängen, Passagen, unzähligen Winkeln und Treppen.
Alle meine Gesprächspartner sind sich darin einig, dass der Kasaner Bahnhof der schmutzigste der drei ist und es dort am meisten Kriminalität gibt. Es ist den Behörden praktisch unmöglich, einen solchen Ort von den Obdachlosen zu befreien.
Chronische Abhängigkeit
Da sitzt Arina, zusammengesunken auf der Bank. Sie betrachtet aufmerksam das Bild mit dem Portrait von Khadycha.
«Kennen Sie diese Frau, man nennt sie auch Nina?»
«Ja, wir haben miteinander gesprochen.»
«Sie sagt, sie beide seien Freundinnen. Sie habe Ihnen geholfen.»
«Wie soll sie mir helfen können? Sie ist doch eine Obdachlose wie ich.»
«Sie sagte mir, dass sie Ihnen Trauben gebracht hätte.»
«Vielleicht. Ich weiss es nicht mehr.»
«Dass sie Ihnen Unterwäsche gekauft hätte.»
«Möglich. Das ist nicht teuer. Das ist gar nichts. Ich brauche das nicht.»
Arina, gebürtig aus Moskau, erzählt uns von ihrer tristen Existenz.
Im Alter von 11 Jahren habe ich zum ersten Mal Alkohol getrunken. Ich habe einen Jungen getroffen, der war in einer Gruppe, wo alle Alkohol konsumierten. Mit 18 bin ich schwanger geworden und habe Zwillinge geboren.
Nach der Geburt der Kinder habe ich mit dem Trinken aufgehört, aber der Vater hat weiter getrunken und wir haben uns getrennt. Als die Zwillinge ein Jahr alt waren, sind die alten Freunde zum Geburtstag gekommen. Ich habe wieder zu trinken begonnen, dann wieder aufgehört. Mit eineinhalb Jahren ist eine meiner Töchter an Krebs erkrankt. Dann bin ich wieder abgestürzt.
Mein ganzes Leben lang habe ich zeitweise immer wieder getrunken. Ich war aber nicht ständig süchtig. Mein erster Aufenthalt im Entzugszentrum hat nichts gebracht. Ich war eine Woche im Bett und dachte, dass ich alles wüsste und alles in der Hand hätte. Jetzt bin ich schon bei meinem sechsten Entzug, erklärt Arina fatalistisch.
Das liegt im Blut
Der Krebs konnte eingedämmt werden. Meine beiden Töchter leben in einer anderen Familie. Wir sind in Kontakt miteinander, aber ich weiss, wie schwierig es für sie ist. Wenn ich eine Mutter hätte, wie ich eine bin, dann würde ich vermutlich keine Beziehung zu ihr aufrechterhalten.
Meine Mutter war die Person, die mir am nächsten stand. Ihr Tod war ein schwerer Schlag für mich. Meine Mutter musste meinen Vater aushalten, der trank und sie schlug.
Ich glaube, dass diese Umgebung mich schon als sehr junges Mädchen dazu gebracht hat, dass ich zu trinken anfing. Das ist in unserem Blut.
Heute verstehe ich, dass es auch eine Krankheit ist, ergänzt sie traurig.
Eine Zukunft?
Als Kind wollte ich Lehrerin werden. Und in den Entzugszentren habe ich mich als freiwillige Helferin gemeldet. Ich gebe gerne das weiter, was ich weiss, um Gruppen zu mitzuleiten. Ich würde gerne als Patin in einem Zentrum der Anonymen Alkoholiker arbeiten und gleichzeitig meinen Entzug zu Ende zu führen. Meine Erfahrung wäre sicher für viele wichtig, und ich könnte auf diese Weise Menschen retten.
Und sonst möchte ich Floristin werden.
Ich hoffe, dass Nochlechka mich wieder aufnehmen wird, damit ich dieses Mal wirklich von der Alkoholsucht geheilt werde, sagt Arina am Schluss, etwas fatalistisch.
Nächste Woche berichtet uns die Journalistin der Nowaja Gaseta von den Erlebnissen von Viktor Petrowitsch, einem Grossvater, der von seiner Familie betrogen wurde. Sie hat ihn am Leningrader Bahnhof getroffen.
In Moskau und Sankt Petersburg gibt es abertausende Arinas, Khadychas, Veras, Katjas und viele weitere obdachlose Frauen.
Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken.
Wichtig: Trotz der gegen Russland verhängten Sanktionen ist es uns immer noch möglich, Ihre Unterstützungsbeiträge zu überweisen.