Ich kam nach Moskau, um hier Arbeit zu suchen, aber das klappte nicht. Das Einzige, was ich schaffte, war, auf der Strasse zu überleben, ruft Nikolai aus. Er ist 63-jährig und sein Gesicht gezeichnet von den Schwierigkeiten seiner Existenz.
Nikolai hat wie viele Russen gedacht, dass ihm die riesige Stadt mit den vielfältigen Möglichkeiten ein besseres Leben bieten könne. Aber damit war nichts.
Ohne Propiska sind Sie niemand
In der Stadt Iwanowo lebte Nikolai als Arbeitsloser und häufte immer mehr Schulden an, damit er seine Wohnung behalten konnte.
Er war davon überzeugt, in Moskau einen Job zu finden, um seine Schulden zurückzuzahlen. Kurzerhand beschloss er, nochmals Geld aufzunehmen, und dann machte er sich am 17. Mai auf den Weg Richtung Hauptstadt.
Leider hatte Nikolai vergessen, dass es ohne Propiska sehr schwierig sein würde, seine Idee zu verwirklichen.
In Russland sind die individuellen Rechte nicht an die Person gebunden, sondern an ihren offiziellen Wohnsitz.
Die Propiska von Nikolai bezog sich auf die Stadt Iwanowo und nicht auf die russiche Hauptstadt.
Ohne diesen Amtsstempel hätte Nikolai allenfalls schwarz arbeiten können, aber er hätte auf keinen Fall eine Unterkunft mieten und etwas sparen können, um seine Schulden zurückzuzahlen.
Und was die Sache auch nicht besser macht: Nikolai verfügt über keine speziellen beruflichen Fähigkeiten und ist nicht mehr jung. Ausserdem ist er bei seiner Jobsuche nicht viel weitergekommen als in die Umgebung des Jaroslawler Bahnhofs in dem er angekommen ist.
Die Pleite
Der einzige Ort, wo ich Unterschlupf fand, war der Bahnhof. Dort schlief ich auf den Bänken der grossen Wartesäle. Ich versteckte mich vor den Sicherheitsbeamten, um nicht rausgeworfen zu werden. Tagsüber bettelte ich um den Bahnhof herum oder machte kleinere Gelegenheitsjobs, um nicht vor Hunger oder Durst zu krepieren. Aber ich hatte nicht mal mehr genug Geld, um ein Rückfahrtticket nach Iwanowo zu kaufen, berichtet Nikolai.
Eines Abends erzählt mir ein Leidensgenosse vom Nachtbus und von den Lebensmitteln, die dort abgegeben werden. Also bin ich mit ihm zum Nachtbus gegangen. Dort konnte ich meine Situation erklären.
Ein Freiwilliger hat mir geraten, am nächsten Tag ins Empfangszentrum von Nochlechka zu gehen.
Heimkehr
Dort hat unser Sozialdienst Nikolais Rückreise ermöglicht. Man hat ihm ein Zugsticket gekauft und ihn zum Bahnhof begleitet.
Die Geschichte von Nikolai ist nichts Aussergewöhnliches.
Im Jahr 2022 sind 28% unserer Kunden nach Moskau gekommen, weil sie hofften, dort bessere Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Und sie sind wie Nikolai auf der Strasse gelandet.
Ein ständiger Kampf
Nikolai ist einer von 2’223 obdachlosen Sans-Papiers, die wir im Mai 2023 in Sankt Petersburg und in Moskau unterstützt haben:
515 Personen wurden von Sozialarbeiter/-innen beraten. 12 konnten wie Nikolai nach Hause zurückkehren.
10 Personen haben wir geholfen, eine Stelle zu finden.
64 Personen wohnten im Empfangszentrum von Sankt Petersburg, 17 in jenem von Moskau.
6 Personen wohnten in unserem Heim für ältere Obdachlose, 15 in unserem Rehabilitationszentrum.
In Moskau und in Sankt Petersburg haben 274 Personen unsere Duschen benutzt. Wir haben an 615 Obdachlose Kleider verteilt. 219 haben den Waschdienst in Anspruch genommen, 22 haben sich von unseren freiwilligen Coiffeusen die Haare schneiden lassen. Der Nachtbus hat 1’152 Personen ein warmes Abendessen ausgegeben.
Erfahren Sie hier alle Zahlen unserer monatlichen Hilfsaktionen.
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Wichtig: Trotz der Tücken des Boykotts ist es uns immer noch möglich, unsere Unterstützungsbeiträge zu überweisen.