Es war im September. Ich befand mich an der Haltestelle Livogo und wartete auf den Nachtbus, um Essen und vor allem etwas zu trinken zu erhalten.
Ich hatte schon seit einiger Zeit so einen unglaublich starken Durst, erzählt Dimitri, ein älterer obdachloser Sans-Papiers.
Für die russischen Bürger, die weder Papiere noch ein Obdach haben, bedeuten gesundheitliche Probleme, dass ihr Überleben noch weniger gesichert ist als sonst, zumal der Staat ihnen nicht hilft.
Die Geschichte von Dimitri belegt diese schon seit ewigen Zeiten bestehende Ungerechtigkeit.
Was für ein unerträglicher Durst!
An jenem Abend begleiten Freiwillige des Charity Hospital den Nachtbus auf seiner Tour. Sie horchen Dimitri ab und finden seinen anhaltenden Durst äusserst besorgniserregend.
Nach einem Blutzuckertest ist klar, dass Dimitri Diabetes hat.
Die Ärztin Ivanovna sagt, dass meine Bauchspeicheldrüse nicht mehr sehr gut arbeitet, sicherlich wegen meines Alkoholmissbrauchs. Sie sagt, ich müsse von jetzt an täglich Insulin nehmen und ausserdem zur genaueren Abklärung ins Spital gehen, erklärt Dimitri, halbwegs erleichtert.
Nochlechka nimmt Dimitri unter ihre Fittiche, nachdem sie über seinen Fall informiert worden ist.
Sie schlägt ihm vor, ihn in ihrem Empfangszentrum unterzubringen und den Gesundheitsdienst der Stadt davon zu überzeugen, ihm ein Rezept für die Insulinabgabe auszustellen.
Den Vorschriften entsprechen, aber …
Dimitri besitzt seinen Rentnerausweis, eine Versicherungspolice und sogar einen Pass, was für die obdachlosen Sans-Papiers äusserst selten der Fall ist.
Aber dennoch, für die Verwaltung genügt das nicht, denn Dimitri hat keine Propiska. Also gibt es auch kein unentgeltliches Insulin.
Seine Erkrankung hätte es Dimitri auch sonst erlauben müssen, gratis Insulin zu beziehen, da es für ihn lebensnotwendig ist.
Aber nein.
Die Anwälte von Nochlechka bemühen sich, die Gesetze und Reglemente durchzukämmen, die sich auf den Fall von Dimitri beziehen, aber ohne Erfolg.
Immerhin hat sich wenigstens das Spital Botekin Dimitris angenommen und liefert ihm vorläufig das für ihn unentbehrliche Insulin.
Rechtlos und gesetzlos
Wie uns Andrei Tschapajev, der Verantwortliche der humanitären Projekte von Nochlechka, erklärt, ist Dimitri einer der sehr zahlreichen Fälle, bei denen einer Person ohne Propiska die Möglichkeit genommen wird, ihre Rechte geltend zu machen, wie z.B. das Recht eines Bürgers der Russischen Föderation auf Anspruch an unentgeltliche medizinische Versorgung.
Die Gesetzgebung verbessern
Dieses rechtliche Problem könnte auf verschiedene Art und Weise gelöst werden, erläutert Igor Karlinski, der Jurist von Nochlechka.
Wir könnten zum Beispiel zusätzlich zu den temporären und permanenten Formularen, die es heute gibt, ein allgemeines Anmeldeformular schaffen anstelle der Wohnsitzbestätigung.
Konkret ausgedrückt würde das jemandem erlauben, sich nicht an der Wohnadresse anzumelden, sondern in einem bestimmten Stadtteil.
Das ist ein idealer Vorschlag für einen Obdachlosen, der ganz offensichtlich keine feste Unterkunft hat.
Der Besitzer eines solchen Meldescheins hätte Zugang zu all den zivilen Rechten, die auch für die permanente Anmeldung gelten; er hätte also unter anderem Anspruch auf medizinische Versorgung und könnte sich als arbeitslos melden.
Ausserdem könnte sich ein obdachloser Sans-Papiers damit regelmässig bei der sozialen Institution seines Quartiers melden.
Eine Utopie?
Eine weitere wichtige Massnahme wäre die Bildung eines Netzes von Gesundheitszentren, in die die Obdachlosen ohne Ausweis oder Meldeschein hingehen könnten, sagt Igor Karlinski.
Das würde es erlauben, schweren Erkrankungen vorzubeugen und das Leben jener zu retten, die für die Augen des Systems unsichtbar sind.
Wie Nochlechka fordern auch die Freiwilligen des Charity Hospitals schon seit vielen Monaten eine solche Massnahme.
Da diese nämlich in einem umherfahrenden Bus praktizieren und nicht in einer Krankenstation, wird die Ausübung ihrer ärztlichen Tätigkeit von der Petersburger Verwaltung als illegal betrachtet.
Kafkaesk
Die Gesellschaft beschuldigt die Obdachlosen oft der Unfähigkeit, sich selbst zu helfen. Sie betrachtet sie als die einzigen Verantwortlichen ihres Zustands.
Dabei ist es im Grunde genommen so, dass eine obdachlose Person, die versucht aus ihrer misslichen Lage herauszufinden, unvermeidlich auf systemische administrative Hindernisse stösst. Sie findet sich in Situationen wieder, in denen die Bürokratie nicht nur die Obdachlosigkeit ignoriert, sondern in denen sich überdies gewisse rechtliche Normen sogar widersprechen.
Wir bemühen uns, nicht nur Dimitri und allen anderen Personen, die uns kontaktieren, zu helfen, sondern auch dem Staat ein wirklich funktionierendes Sozialsystem vorzuschlagen, dessen Hauptaufgabe nicht die bürokratischen Formalitäten sind, sondern die Unterstützung der Menschen und der Respekt vor seinen bürgerlichen Rechten, sagt Andrei Tschapajev zum Schluss.
Mehr als je brauchen wir Sie und Ihre unermüdliche Unterstützung.
Helfen Sie uns, Leben zu retten.
Wichtig: Trotz der Tücken des Boykotts ist es uns immer noch möglich, unsere Unterstützungsbeiträge zu überweisen, die heute noch notwendiger sind als früher.