Milonow-Konzept

, Parlamentarier in der Duma, dem russischen Parlament, ist international bekannt für sein Gesetz gegen die Homosexualität.
Neu schlägt er nun ein Konzept zur Lösung des Problems der Obdachlosen in Russland vor. Insbesonders soll das Problem in seiner Geburtsstadt Sankt-Petersburg behoben werden, hier leben über 60’000 Personen auf der Strasse.

Sein Projekt: verlassene ehemalige Kolchosen wieder in Betrieb nehmen. Darauf sollen Schlafsäle errichtet werden, um die Obdachlosen hier einquartieren und ihnen Arbeit geben zu können. Herr Milonow präzisiert, dass diese Lager durch Spezialisten des Ministeriums für Gesundheit kontrolliert würden. Daduch würde die medizinische Betreuung und die monatlichen Impfungen sichergestellt.

Am vergangenen 29. Mai 2014 hat Herr Milonow NSS ein exklusives Interview gewährt, um seine Absicht zu präzisieren.

Der Parlamentarier hat uns in seinem Büro empfangen, das vom Porträt Wladimir Michailowitsch Gundyayew’, dem Patriarchen von Moskau und von Russland, dominiert wird. An den Wänden hängen Ikonen, auf dem Pult türmen sich zahlreiche Dossiers. Obenauf liegt eine Bibel sowie das Modell einer russischen Kirche aus dunklem Holz.
Die Präsenz dieser religiösen Zeichen ist kein Zufall. Witaly Milonow betont, dass seine Politik stark von der orthodoxen Religion geprägt ist, die in Wladimir Putins Russland wieder auflebt.

Ein wenig wie im Hotel
NSS: Herr Abgeordneter, am 19. August 2013 haben Sie die Öffentlichkeit darüber informiert, dass Sie ihren Parlamentarier-Kollegen ein Projekt vorschlagen werden, das die Errichtung von Arbeitslagern für die Obdachlosen vorsieht. Können Sie uns erläutern, wo dieses Projekt heute steht.

V.M.: Zuerst muss ich klarstellen, dass ich in keinem Fall der Wortführer der Exekutive bin. Ich bin Abgeordneter, ich schlage Ideen vor. Aber ich kann diese nicht allein ausführen.

Bezüglich der Obdachlosen biete ich ein globales Vorgehen an, um das Problem aus einer christlichen Perspektive heraus zu lösen. Ziel ist es, dass die Obdachlosen nicht mehr erfrieren müssen und Kinder sowie alte Leute nicht mehr sich selbst überlassen sind.

In Sankt-Petersburg gibt es verschiedene Arten von Obdachlosen. Zum Beispiel Personen, die infolge gewisser Mängel im Gesezt über die Registrierung ihre Unterkunft verlieren. Dies sind keine echten Obdachlosen. Diesen Leuten würden die von mir vorgeschlagenen Zentren ein Dach über dem Kopf und Arbeit geben. Die Möglichkeit, an diesen Orten zu wohnen und einen gewissen Lohn zu verdienen, gäbe ihnen die Chance, sich in der Folge wieder ins normale Leben zu intergrieren. Die Leute würden dort ein wenig wie in einem Hotel wohnen.

NSS: Sie sprechen von diesen Lagern, von diesen Zentren. Wie sind diese organisiert? Aufgrund welcher Kriterien werden die Leute ausgewählt?

V.M.: Jedermann, der auf der Strasse lebt, muss dorthin gehen. Es muss vom Prinzip ausgegangen werden, dass die Leute nicht auf der Strasse leben müssen.

NSS: Schliessen Sie unter jedermann auch die Waisen ein? Diese Jugendlichen, die das Waisenheim verlassen und von denen 80% als Sans-Papiers auf der Strasse landen?

V.M.: Sie erhalten alle eine Unterkunft beim Verlassen des Heims.

NSS: Gemäss mehreren Umfragen ist dies nicht der Fall: die Waisen müssen mindestens 3 Jahre warten, um eine Unterkunft zu erhalten. Dies ist auch ein Problem.

V.M.: Es stimmt, dies kommt vor. Nach meinen persönlichen Erfahrungen kann ich aber sagen, dass es nicht viele sind, die 3 Jahre warten müssen.

NSS: Ihr Projekt betrifft also jedermann: obdachlose Kinder und ebenfalls alte Leute.

V.M.: Die obdachlosen Kinder muss man nicht einmal erst fragen. Alle, habe ich gesagt.

NSS: Wie werden Sie diese Obdachlosen in ihre Zentren bringen? Unter Zwang? Können die Leute wählen? Was passiert, wenn jemand nicht will?

V.M.:  Ja und? Was wollen diese Leute denn?

Als Christ kann ich doch die Augen vor diesem Elend nicht verschliessen

V.M.: Ich weiss nicht, was besser ist: das Recht auf Freiheit, verlassen in einem Keller mit einem Geschwür auf einem Bein oder eine eingeschränkte Freiheit, wo sich jemand um Sie kümmert.

V.M.: Als Christ, der die Notschlafstellen (durch die Stadt organisierte Empfangs-Zentren) besucht und freiwillig bei Hilfsaktionen mitarbeitet, habe ich nicht das Recht, die Augen zu schliessen.

Wenn einige meiner Parteikameraden  (Herr Milonow ist Mitglied der Partei Vereinigtes Russland von Wladimir Putin) denken, meine Ideen seien nicht gut genug, würde es mich freuen, wenn sie bessere Vorschläge einbringen. Aber jemand muss die Vorschläge machen.

Die Obdachlosen in Sankt-Petersburg haben ein sehr hartes Leben, die Sterblichkeit ist sehr hoch (Die Lebenserwartung der petersburger Obdachlosen liegt etwas über vier Jahre). Man muss sie an Orte umsiedeln, wo Arbeitskräfte fehlen, fernab aller Versuchungen einer Grossstadt.

NSS: Wie wird die Struktur dieser Zentren aussehen, wer wird sie leiten?

V.M.: Ich denke, man kann dieses Projekt realisieren, indem man sich auf eine staatlich-private Partnerschaft abstützt. Wir gehen in jedem Fall vom Standpunkt aus, dass die Strassen von Sankt-Petersburg frei von Obdachlosen sein müssen, dies zu ihrem Vorteil sowie zum Vorteil für die Einwohner.

NSS: Wird eine berufliche Ausbildung organisiert? Ist eine Hilfe geplant, damit diese Sans-Papiers ihre Identitäts-Papiere wieder erhalten?

V.M.: Ja sicher. Die unsinnige aktuelle Situation führt die petersburger Obdachlosen zur Annahme, dass sie sich nach einer jahrelangen Wartefrist in eine Liste für eine kostenlose Unterkunft eintragen können. Dies ist ein unerreichbarer Traum, da sie gar nicht bis zu diesem Moment leben werden.

NSS: Wie lange werden die Obdachlosen in den Zentren bleiben?

V.M.: Gemäss meinem Konzept ist es denkbar, dass man ihnen 6 Monate anbieten kann.

Der Obdachlose wird wie ein Geschlechtskranker behandelt

NSS: Müsste man nicht die Gesetzgebung ändern, falls ihre Konzeption angenommen werden sollte, da die Obdachlosen heute nicht mehr als Banditen eingestuft werden. Wie kann man sie gegen ihren Willen umsiedeln?

V.M.: Meine Zentren sind keine zukünftigen Gefängnisse. Die Obdachlosen sind keine Kriminellen. Ihre Verlegung in die Zentren wäre nicht einmal ein Verstoss gegen die Gesetze. Es ist vielmehr die heutige Situation, welche zu Zwangsumsiedlungen führen würde.

Verzeihen Sie mir: es ist wie der Geschlechtskranke, der nicht verantwortlich dafür ist, dass er an dieser oder einer andern ansteckenden Krankheit wie Typhus erkrankt ist.

Jemand, der von einer epidemischen Krankheit befallen wird, ist nicht schuld daran, dass er krank ist. Niemand wird ihm aber erlauben, auf der Strasse herumzulaufen. Er wird unter Quarantäne gesetzt und behandelt, damit er wieder gesund wird.

NSS: Glauben Sie, dass genügend Abgeordnete eine solche Massnahme unterstützen werden? Wenn sie nicht angenommen wird, wird ihr gesamtes Konzept nicht realisiert.

V.M.: Ja sicher, das Konzept könnte abgelehnt werden. Dies ist eine politische Frage.

Wie stehen die Aussichten für eine Mehrheit? Ich weiss es nicht. Was ich weiss, ist, dass das Problem sehr wichtig ist.

Es ist offensichtlich bequemer, nicht von diesem Problem zu sprechen. Das einzige Mittel zur Lösung ist nicht, zwingend mein Konzept zu unterstützen, sondern ernsthaft damit zu beginnen, eine Lösung zu erarbeiten.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass im Laufe der letzten 20 Jahre eine grundlegende Entscheidung zu diesem Thema getroffen worden wäre.

NSS: Haben Sie über diese Problematik mit den Machtinhabern diskutiert, mit Herrn Putin?

V.M.: Herr Putin und ich sind auf verschiedenen Macht-Niveaus. Ich habe mein Konzept an die Duma und an die Medien gerichtet.

Oft nehmen die Parlamentarier  das Thema nicht sofort auf. Und später sprechen sie davon, als wäre es ihr Vorstoss. Dies ist mir gleichgültig, ich brauche keine Lorbeeren, kein Urheberrecht. Aber das Problem muss gelöst werden. Es gibt den Begriff «Provokation».  Wenn der Vorstoss es erlaubt, den Obdachlosen Hoffnung zu geben oder ihren Tod zu verhindern, finde ich, dass ich auf meiner Ebene erfolgreich war.

NSS: Fühlen Sie sich als einsamen Kämpfer? Welche Unterstützung erhalten Sie für ihr Konzept?

V.M.: Sobald ich von diesem Problem zu sprechen beginne, werde ich besonders von den  Nichtregierungs-Organisationen kritisiert. Sollen sie doch eine Alternative vorschlagen.

NSS: Spüren Sie Unterstützung durch ihre Kollegen oder durch die Kirche?

V.M.: Ja, durch die Kirche.

NSS: Die Kirche kann ihren Einfluss geltend machen.

V.M.: Wenn die Kirche Macht auf den Staat ausüben könnte, hätten wir schon lange die Abtreibung verboten. Ich spreche ja wie ein Kirchenoberhaupt.

NSS: Allem voran sind Sie ein Mann der Politik.

V.M.: Eine Person, ein Rädchen in einem Antrieb.

Nein, wirklich niemand will Obdachlose

NSS: Fühlen Sie sich allein gelassen?

V.M.: In diesem Fall, ja. Dieses Problem begeistert meine Kollegen nicht. Das Thema fördert ihre Karriere nicht; es handelt sich um eine Routinearbeit, die ihr Image nicht steigert.

NSS: Hat unter ihren Abgeordneten-Kollegen keiner das Verlangen oder den politischen Willen, das ernste Problem der Obdachlosigkeit zu lösen?

V.M.: Genau da liegt das Problem. Niemand spricht darüber. Sie müssen wissen, dass wir seit 20 Jahren so tun, als ob wir uns um die Obdachlosen kümmern würden. In Tat und Wahrheit tun wir nichts für sie. Die Notschlafstellen sind rein formell, für die Katze.

NSS: Stimmt! Um dort aufgenommen zu werden, wird eine unglaubliche Anzahl Papiere verlangt. In Sankt-Petersburg gibt es zudem lediglich 11 Notschlafstellen mit 220 Betten. Angesichts der 60’000 Personen, die auf der Strasse leben, ist dies wenig.

V.M.: Einverstanden. Wieviele Plätze müssen wir in diesen Unterkünften denn anbieten? 60’000? Wenn dem so ist, brauchen wir keine anderen Visionen, mein Konzept wäre nutzlos.

Belasten wir uns weiterhin mit dieser schrecklichen und düsteren Last der 60’000 Obdachlosen, die weiterhin hier leben? Weiter ins vorhandene System investieren?

Dies kostet viel Geld, aber niemand gibt Geld für das Schicksal der Obdachlosen.

Die beste Lösung wäre, mein Konzept oder ein anderes entsprechendes Programm zu unterstützen, damit das Problem umfassend gelöst werden kann.

Nein, wirklich niemand will Obdachlose. Der Staat wendet sich von diesen Leuten ab.