10800 Tage ohne Identität

Beinahe 30 Jahre ohne Papiere, scherzt Wladimir, dem man seine 63 Jahre gut ansieht. Stellen Sie sich vor: Wenn sie mich in den Krieg gegen die Ukraine hätten einziehen wollen, sie hätten mich nicht gefunden.
Eigentlich stimmt das jetzt nicht mehr, denn seit Mai 2024 bin ich, dank euch, den Leuten von Nochlechka, wieder in den staatlichen Datenbanken zu finden.
Ich bin ohnehin viel zu alt, um in den Krieg zu ziehen. Ich habe schon genug getan, fürs Überleben gekämpft. Denken Sie nur, ich habe fast dreissig Jahre lang alles getan, um nicht zu sterben, erzählt Wladimir mit einem Lächeln auf den Lippen.

660 Tage Papierkrieg und ein Hin und Her
Wir befinden uns im Aufnahmezentrum von Nochlechka in Sankt Petersburg. Tanja, die Sozialarbeiterin, hört aufmerksam zu, glücklich, dass die Sache zu einem guten Ende gekommen ist.
Es dauerte 22 Monate, bis Wladimir endlich seine Identitätspapiere wieder erhalten hat und endlich wieder als lebendiger Bürger des russischen Staats existiert, erklärt sie uns.
Ja, endlich.
Vor fünf Tagen wurde Wladimir aufgefordert, einen Passantrag als Bürger der Russischen Föderation zu stellen. Und das, nachdem er so lange nicht existiert hat, stellen Sie sich das vor.

Mit den Ausweispapieren in der Tasche kann Wladimir nun daran gehen, ganz offiziell eine Stelle zu suchen und sich um seine Gesundheit zu kümmern. Ja, so ist es in Russland: Wenn Sie keine «Propiska» haben, existieren Sie nicht, Sie können keine Kranken- oder Unfallversicherung abschliessen und sich nicht behandeln lassen, erklärt Tanja.
Jetzt sind wir endlich ans Ziel dieser endlosen Reise angelangt, 660 Tage haben sich unsere Anwälte abgerackert, damit Wladimir seine Rechte zurückerhält, die Rechte eines vollwertigen Bürgers der Russischen Föderatio

3 August 2022
Wladimir, erinnern Sie sich an dieses Datum? An diesem Tag sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Ein paar Tage vorher sind Sie in unser Aufnahmezentrum gekommen. Die Leute des Nachtbusses hatten Ihnen geraten, sich beim Zentrum zu melden.
Ja, ich erinnere mich noch sehr gut daran.
Obdachlose Kollegen haben mir vom Bus erzählt, von der Nahrungsmittelabgabe. Ich war damals nicht sehr fit, es war Ende Winter. Ihr alle, ihr Leute von Nochlechka, ihr habt mir bestimmt das Leben gerettet. Hier im Zentrum habt ihr mir wieder auf die Beine geholfen, physisch und mental.
Ja, das stimmt, sagt Tanja. Und am 3. August jenes Jahres haben Sie mir eine Kopie einer Quittung des Bundesstrafvollzugsdienstes gezeigt, ein zerknittertes, zerrissenes, x-mal gefaltetes A4-Blatt.
Ja, sagt Wladimir, ich hütete dieses Papier wie meinen Augapfel. Sie müssen wissen, dass der Gefängnisaufenthalt der einzige Beweis meiner Existenz war. Unglaublich, nicht wahr?
Und mit diesem Wisch und mit viel Geduld und Opferbereitschaft haben wir Ihnen eine offizielle Identität zurückgeben können. Ja, wirklich unglaublich!

Eine Sisyphusarbeit
Tanja fährt fort: Wir haben Dutzende von Anfragen verfasst, das Leben von Wladimir Stück für Stück zusammengetragen, Sie und ich und unsere Anwälte, wir haben Ihre Autobiografie geschrieben, eine Anfrage zur Identifizierung gestellt und eine Vielzahl von Formularen ausgefüllt, eine unglaubliche Menge an Papierkram. Und mit diesem riesigen Stapel an Dokumenten haben wir Wladimir zum Regionaldepartement für Migrationsfragen begleitet. Acht Monate später wurde ein Identifizierungsverfahren eingeleitet. Ja, acht Monate des Wartens, des Hin und Hers zurückgewiesener Dokumente, Papiere, die es zu ergänzen galt. Was für ein Hindernislauf!
Fast zwei Jahre später haben die Behörden die so lange erwartete Identität endlich wiederhergestellt.

Zurück zu einem normaleren Alltag
Seit einigen Wochen hat Wladimir das Zentrum verlassen. Er wohnt und arbeitet als Chauffeur bei einer Kirche in der Gegend von Moskau.
Vor dreissig Jahren habe ich meinen Pass verloren. Ich weiss nicht mehr, unter welchen Umständen das geschah. Statt sofort einen neuen Pass zu beantragen, habe ich mich nicht darum gekümmert. Man muss auch sagen, dass zu jener Zeit (die Jahre unter Jelzin) ein ökonomisches Durcheinander herrschte und der Tschetschenienkrieg wütete. Wie auch immer, ich habe mich sehr bemüht, Arbeit zu finden, aber Sie wissen ja, dass es ohne Propiska nichts gibt ausser Schwarzarbeit.

Es gibt zehntausende solcher obdachloser Sans-Papiers wie Wladimir. Unsere Aufgabe ist riesig.
Danke, dass Sie uns helfen, Leben zu retten.

Wichtig: Trotz des Boykotts ist es uns weiterhin möglich, unsere Unterstützungsbeiträge Nochlechka zukommen zu lassen.

 

 

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