Zwischen Stuhl und Bank

Unglaublich, das Schicksal von Vera Egorowna.
28 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Vera heute keinerlei Identität mehr.

Vera Egorowna, 79-jährig, hat die geschichtlichen Turbulenzen miterlebt, ohne dadurch unmittelbar betroffen gewesen zu sein.
Nur die persönlichen Umstände in einem bestimmten Moment haben sie an die Veränderungen der UdSSR erinnert.

Verspätetes Opfer der Perestroika
1985 geht es der Sowjetunion schlecht, ihr Generalsekretär, Michael Gorbatschow führt strukturelle Reformen durch: die Zeit der Perestroika. Ein völliges Durcheinander ist die Folge, das mit der Auflösung der Union endet.
Durch den Zerfall in vielfältige Nationen werden sehr viele sowjetische Bürger staatenlos. Eine unter ihnen ist Vera Egorowna.
Wir treffen sie im Aufnahme-Zentrum von Nochlechka, wo sie hofft, ihre administrative Identität zurückzuerhalten.
Sie erzählt uns ihr Leben und, als wäre alles unbedeutend, wie sie lange Zeit ohne Ausweis überlebt hat.

Auflösung der Union
Meine Eltern sind während der Belagerung von Leningrad gestorben, zuerst Mama, Papa bei der Befreiung. Ich war vier Jahre alt. Ich wohnte mit meinem Bruder Yvan bei der Grossmutter. Sobald sie konnte, hat sie Yvan ins Waisenheim gebracht. Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen.
Wir lebten in einer
Kolchose bei Archangelsk. Mein Tagesablauf beschränkte sich auf die Schule und das Kartoffelfeld, eine Kultur, soweit das Auge reicht.
Mit 17 Jahren wurde ich nach Georgien geschickt, wo ich in einer Flugzeugfabrik arbeitete.
Alles ging gut, ich habe geheiratet und einen Sohn gehabt. Ja, alles ging gut bis 1994. Das Reich wird
zerstückelt, in Tbilissi werden die Russen schickaniert. Ich muss fliehen, komme nach Leningrad (heute St. Petersburg) zurück.

Herumziehende Verkäuferin
Um zu überleben, verkaufe ich ab meiner Ankunft auf der Strasse alles mögliche.
Ich stehe jeden Tag um sechs Uhr auf, ab sieben Uhr bis am Abend bedränge ich die Passanten mit Cottage Cheese, Sauerrahm, mit Würsten. Ich beschaffe mir die Ware im Bahnhof Vitebsk. Die Züge kommen aus der Ukraine, aus Weissrussland. Man plündert sie ein wenig.
In dieser Zeit, 1993-1994, herrscht Anarchie, Bestechungsgelder erleichtern die Geschäfte merklich.

Keine Propiska
In all den Jahren, die ich mit dem Verkauf meiner Waren verbrachte, hat eigenartigerweise nie jemand meine Ausweise verlangt. Dabei ist es wirklich nicht selten, dass irgendein Beamter einem belästigt, um damit etwas Schmiergeld einzustreichen.
Alles ging gut, bis ich krank und teilweise invalid wurde. Die Arbeit auf der Strasse ist sehr anstrengend.
In dieser Zeit,
ich bin 72 Jahre alt, ist es unmöglich, seine Rechte geltend zu machen. Unmöglich, meine Rente zu bekommen.
Georgien wurde ein unabhängiger Staat. Ich wohne in St. Petersburg und habe keinerlei anerkannte Identität.
Der Höhepunkt der Pechsträhne ist erreicht, als der Vermieter von meinen Problemen erfährt und mich vor die Tür stellt.
Mein UdSSR-Pass ist nichts wert, ich kann nicht reisen, kann nicht nach Tbilissi fahren, um mich administrativ in Ordnung bringen zu lassen.
Eine Babuschka, ebenfalls Händlerin, bietet mir ihre Gastfreundschaft an. So wie ich, hat auch sie keine
Propiska. Nach ihrem Tod bin ich gezwungen, auf der Strasse zu überleben, ohne nichts.

Keine Unterkunft für die Obdachlosen
Von da an kamen für mich Wochen des Umherirrens, der Kampf gegen die Kälte, gegen diese in St. Petersburg allpräsente Feuchtigkeit. Und keine staatlichen Unterkünfte für die Sans-Papiers, noch viel weniger für die Frauen.

Eines Abends lernt Vera Egorowna den Nachtbus und seine Dienstleistungen kennen.
Dort erzählen ihr die freiwilligen Mitarbeiter von das Aufnahme-Zentrum.
Sie begibt sich dorthin und wohnt seit einigen Wochen dort in der Hoffnung, dass die Juristen der NGO ihre vertrackte administrative Situation entflechten können, dass sie ihre Identität wiedererlangen kann und, falls möglich, eine Altersrente erhält.

Herzlichen Dank für ihre unabdingbare Unterstützung.

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