Ein Leben, fast wie jedes andere.
In der Schweiz beeinflusst der momentane Verlauf der Geschichte selten direkt das Leben der Bewohner. In Russland wurde das Schicksal vieler Männer und Frauen durch historische Ereignisse heftig beeinflusst, und zwar vor nicht allzu langer Zeit.
Im Leben vom 42-jährigen Vadim Vokov wird uns dies nähergebracht. Vadim ist in Usbekistan geboren und hat Bauingenieurwesen studiert. Einige Wochen vor seiner Einberufung in die Armee hat Vadim geheiratet und kurz darauf wurde er an die afghanische Front versetzt. Nachdem er zweimal verletzt wurde, versetzte man ihn nach Murmansk an den Stützpunkt der nuklearen U-Booten. Dort konnte er sich, dank seinen technischen Kenntnissen weiterbilden und sich auf Unterwasser-Unterschall spezialisieren.
Wodka für den ganzen Lohn
Zehn Monate hat nun Vadim erfolgreich unter Wasser verbracht, weit entfernt von den politischen und ökonomischen Ereignissen, welche die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken erschütterten. Staat und Armee gingen Bankrott, und Vadim erhielt keinen Lohn, und war somit nicht in der Lage, seine Familie – die Frau Natascha, und die Kinder Valerija und Sergej – zu ernähren. Da er keine andere Möglichkeit sah, diente Vadim weiterhin in der Armee, im Nahrhungsmitteldepot in Kronstadt, das unter Befehl eines gewissen Kolonel Vladimir war. Dort wurde ihm Kost und Logie zur Verfügung gestellt. Seine Familie hat er nach und nach aus den Augen verloren.
” Ich war so bedrückt durch alles Geschehene, dass mir mit der Zeit alles gleichgültig wurde “, erinnert er sich.
Anstatt Geld hat man ihn mit Vodka bezahlt, nach und nach vergas er seine Familie, wurde zum Alkoholiker und dann in der Ära Jelzins fand er sich auf der Strasse wieder. Durch die ökonomische Zerrüttung leerten sich die Dörfer. Die Kolchosen hörten auf zu existieren, die Verteilungszyklen brachen ein, die Bauern zogen vom Lande in die grossen Städte.
Diese Situation macht sich Vadim zu Nutze; er reisst sich zusammen, nimmt einen Kredit auf und kauft sich ein Stück des verlassenen Landes. Er eignet sich Schweine an, baut Futter an, und errichtet gar eine Wurstfabrik, in der er fünzig Menschen beschäftigen kann. Das Ganze geht gut, bis einige Banditen auftauchen, und ihn zwingen, ihnen das blühende Unternehmen für ein paar Kopeken zu überlassen.
– “Ich hatte wirklich keine andere Wahl. Sie haben mich so oft verprügelt, bis ich nachgegeben habe. Die Polizei? Die Polizei macht ja oft selbst gemeinsame Sache mit den Banditen. ”
Totale Hoffnungslosigkeit
Ähnlich, wie viele seiner Landsleute, die Opfer dieser Rechtslosigkeit wurden, stand auch Vadim wieder mit leeren Taschen da. Und sein nächster Schicksalsschlag ist die Verhaftung, da ihn jener Kolonel Vladimir aus Kronstadt wegen Veruntreuung der Armee angeklagt hat. Tatsächlich ist er nicht ganz unschuldig, doch als Sündenbock werden ihm auch noch die ganzen Vergehen seines Vorgesetzten aufgehalst und kommt für 3 Jahre hinter Gitter. Bei seiner Entlassung ist Vadim arbeitslos, er hat nichts bei sich, und noch schlimmer – er hat keine Papiere mehr.
– “Mann kann sich nicht vorstellen, was es bedeutet.“, sagt er “von einer Sekunde auf die andere unsichtbar und inexistent zu werden. Du hast keine Identität mehr; Du bist ein nichts. Das ist eine schreckliche Sensation, so etwas von unverstehbar Wenn die Hoffnung verschwindet, hört man selbst damit auf, auf einen möglichen Hoffnungsschimmer zu warten.”
Man vergisst schnell, dass man ein Mensch ist
Vadim fällt also nochmals zwei Jahre in das Schlamassel des Alkohol, der Kälte, des Hungers und der Strasse. Da vergisst er schnell, dass er ein Mensch ist. Eines Nachts übertönt der Heisshunger sein Bedürfnis nach Alkohol. Vadim stösst per Zufall auf den Mini-Bus von Nochlezhka. Die heisse Suppe und der Kontakt zu den Helfern löste bei ihm etwas aus. Am nächsten Tag stellt er sich bei der Organisation Nochlezhka vor. Ganze zwei Jahre hält er sich bei Nochlezhka auf und besucht gewissenhaft die Sitzungen der Anonymen Alkoholiker. Ebenfalls aktiv nimmt er an Informatikkursen teil und trägt zum guten Gelingen des Zentrums bei.
Nach monatelangem Einsatz, kann ihm der Jurist von Nochlezhka eine Ersatzidentität ausstellen, die Vadim eine Arbeit als Techniker auf der Baustelle ermöglicht.
Trotz seinen Qualifizierungen bleibt die Arbeit jedoch nach wie vor temporär. Seine provisorischen Papiere hindern ihn an einer Festanstellung und verwehren es ihm, sich legal an seine neue Firma zu binden. So hat er auch keine Wohnung auf seinen Namen bekommen. Wie alle Sans-Papiers kann er weder reisen noch von seinen Zivilrechten Gebrauch machen. Klar, diese Situation ist absolut unbefriedigend. Aber wenn sich Vadim tatsächlich für die mühsame Prozedur zur Erhaltung von Dokumenten entscheiden würde, hätte er keine Zeit mehr, zu arbeiten. Es bleibt also nur noch die Lösung, sich falsche Papiere zu kaufen.
– ” Eines Tages vielleicht”, sagt er abschliessend, “kann ich vielleicht diese Papiere ergattern, ohne die der russische Bürger nichts, oder so wenig, ist. Aber viel zu oft wird man in diesem Spiel reingelegt.“