Sein oder Nichtsein

Manchmal hilft weder der Entzug noch das Gebet noch der Wille, die Sucht zu überwinden. Das bedeutet aber nicht, dass man aufgeben soll. Die überraschendsten Handlungen können zum Erfolg führen, zum Beispiel auf die Bühne zu treten. Das sagt Irina Minina, die Direktorin des Studiotheaters Мы (Wir).

Immer schlimmer
Viele Leute sagten mir, ich solle zu diesem Theater gehen, um wieder clean zu werden und um mehr Selbstvertrauen zu gewinnen. Ich habe wirklich gezögert, daran gezweifelt, dass es etwas nützen könnte.
Eines Tages ging ich trotzdem dorthin für eine Probe. Darauf begann ich ernsthaft zu überlegen. Ich sagte mir: Warum auch nicht? Und wenn ich die Nase voll habe, haue ich ab, niemand hält mich zurück, erklärt Iwan, den wir am Theaterausgang angetroffen haben.

Iwan wurde in eine wenig wohlhabende Familie geboren. Sein Vater trank viel, seine Muttter kümmerte sich um alle Arbeiten zuhause und um seinen jüngeren Bruder Wanja, der an einer geistigen Behinderung leidet.
Damals lud ihn sein grosser Bruder Pjotr, der in der Petersburger Rockszene verkehrte, in die Partywelt ein, in der Alkohol und Drogen an der Tagesordnung sind.
Der plötzliche Tod meines Vaters hat mich zum Drogenkonsum verleitet. Es war ein Absturz ohne Ende.
Die zehn Jahre danach waren eine richtige Heroinhölle, mit einigen kurzen Unterbrüchen, erzählt Iwan. Ausserdem bekam ich Hepatitis und HIV und mein Leben wurde noch unerträglicher.
Und so landete ich auf der Strasse.

Ohne Zwang
Vor einigen Wochen hat mich Nochlechka aufgenommen und mich in eines ihrer Rehabilitationszentren gebracht, erzählt Iwan weiter.
Unser ganzheitlicher und umfassender Ansatz unterscheidet sich stark von anderen Entzugszentren für Drogensüchtige und Alkoholiker, erklärt Slawa Minin, der Koordinator des Zentrums.
Niemand wird genötigt, wir zwingen niemandem gewisse Ansichten auf, wie das in einigen religiösen Rehabilitationszentren der Fall ist. Und selbstverständlich verlangen wir keine Gebühren. Die Idee ist, dass jede Person ihren eigenen Ansatz findet, um mit der intensiven Unterstützung unserer Psychologen von der Sucht wegzukommen.

Auf der Bühne
Vor einigen Wochen kontaktierte uns Irina Minina, fährt Slava Minin fort. Irina hat uns die Theaterkunst zur Unterstützung unserer Therapie vorgeschlagen.
Alles begann mit der Umsetzung kleiner Szenen direkt in unserem Zentrum. Der therapeutische Effekt hat sich sofort gezeigt.
Unsere Obdachlosen haben so die Gelegenheit, ihre durch die Obdachlosigkeit und ihre Süchte verdrängten Gefühle zu zeigen, indem sie eine Rolle interpretieren, eine andere Person darstellen und so sprechen, als wären sie jemand anders. Sie können ihr inneres Selbst befreien, das seit Jahren auf diesen Moment gewartet hat, erklärt Slava Minin weiter.
Der Vorschlag des Theaters Мы wurde umgesetzt. Die Proben finden zweimal wöchentlich statt, je drei Stunden am Mittwoch- und am Samstagabend. Eine wahre Lektion in Sachen Disziplin.

Eine Win-Win-Situation
Dieses Projekt hilft den obdachlosen Sans-Papiers beim Entzugsprozess, es hilft ihnen dabei, an sich zu glauben und anderen zu vertrauen, sich an die Arbeit in der Gruppe zu gewöhnen, einen Sinn für Pünktlichkeit und Verantwortung zu entwickeln, sich gegenseitig zu helfen und sich wieder am Leben zu freuen. Es erweitert ihren Horizont und lehrt sie, ihre Gefühle zu äussern.
Zusätzlich entwickeln die Teilnehmer/-innen des Projekts gewisse Fähigkeiten wie richtig zu sprechen, um Hilfe zu bitten, ihren Körper wahrzunehmen und zu verstehen, sich zu erholen und die Zeit einzuteilen.

Durch dieses Projekt machen wir auch auf die Problematik der Obdachlosigkeit aufmerksam.
Zu den Aufführungen laden wir nämlich Fachleute von öffentlichen Stellen und aus gemeinnützigen Organisationen ein. Wir erarbeiten Positionspapiere, entwickeln unser Hilfssystem weiter und bauen eine Gemeinschaft aus Fachleuten auf. Die Theaterstücke sind ausserdem eine Gelegenheit zu zeigen, wie Leute, die von der Strasse kommen und süchtig sind, es schaffen, wieder auf die Beine zu kommen.

Vorhang auf!
Sechs Monate Theater haben das Leben von Iwan stark verändert. Er hat es geschafft, sich aus einer zerstörerischen Beziehung zu lösen, er hat einen Job gefunden und scheint auch seine Angst überwunden zu haben. Er hat Vertrauen in seine «kreativen Gene», präzisiert Slava Minin.
Geleitet vom Prinzip «Warum nicht?» spielt Iwan nun nicht nur im Theater Мы, sondern tritt regelmässig an Poesieabenden auf, wo er seine eigenen Gedichte vorträgt. Kürzlich hatte er zudem einen Auftritt in der Klinik, in der sein jüngerer Bruder Wanja liegt. Und ausserdem hilft er seiner Mutter, die Wohnung zu renovieren.

Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken.

Wichtig: Trotz des Boykotts ist es uns weiterhin möglich, Ihre finanzielle Unterstützung weiterzuleiten.

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