Mit 18 Jahren auf der Strasse

Bist du zum ersten Mal hier? – Ja. – Wie heisst du mit Nachnamen? – Krasnov. – Hast du nicht zufällig einen Bruder? – Doch, Anton.
Wie? Er ist hier? ruft Kirill aus, eine Waise,
der erst vor ein paar Stunden von unserem Nachtbus aufgenommen wurde.

Keine Lösung
Beim Empfang unseres Aufnahmezentrums erfährt Kirill Krasnov die verblüffende Neuigkeit: Sein zwei Jahre älterer Bruder ist auch bei Nochlechka registriert. Dabei hatte Kirill keine Nachrichten mehr von ihm, seit Antons Aufenthalt im Waisenhaus zu Ende gegangen war. Das war exakt am Tag seines 18. Geburtstags.
In Russland ist es so: Am Tag des Erreichens ihrer Volljährigkeit müssen die Waisen das Haus verlassen, unabhängig davon, ob für sie draussen ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit warten oder nicht.
Sehr oft landen sie dann auf der Strasse.

Die «sozialen Waisen»
Gemäss den Zahlen der Verwaltung sind 80% der registrierten Waisen sogenannte soziale Waisen.
Ihre biologischen Eltern leben zwar, haben aber entweder ihrer Elternrechte verloren oder sich ihrer selbst entledigt.
In diesem Land verlassen jedes Jahr Tausende von 18-jährigen oder noch jüngeren Jugendlichen spezialisierte Einrichtungen wie Waisenhäuser, Internate oder Kinderhäuser.
Die Daten des Erziehungsministeriums ergeben die folgende Aufteilung: 50% gehören einer Risikogruppe an. 10% davon begehen Suizid, 30% sind arbeitslos, 20% werden obdachlos.

Eine Waise zu sein bedeutet in Russland oft, eine extrem prekäre Existenz am Rande des Gesetzes zu führen, ohne irgendwelche administrativen Rechte.
Und doch.

Eine rechtsstaatliche Pflicht
In Russland ist die Gesetzgebung betreffend der Waisen klar: Im Artikel 57 des neuen Gesetzes über das Niederlassungsrecht, in § 2, der im Jahr 2004 verabschiedet wurde, findet sich folgende Bestimmung:
Eine Unterkunft wird vorrangig Waisenkindern gewährt, die keine elterliche oder familiäre Unterstützung haben, und zwar sobald sie aus Bildungseinrichtungen und anderen öffentlichen Heimen, einschließlich Sozialhilfeeinrichtungen, Adoptivfamilien und Waisenhäusern austreten.
Mit Unterstützung der Vormundschaftsbehörden erhält die Waise die entsprechenden Dokumente, die es ermöglichen, eine Wohnung zu bekommen, und sie wird in ein spezielles regionales Register der Personen eingetragen, die Anspruch auf Wohnraum haben.

Eine völlig andere Realität
Es gibt zwar einige Regionen, in denen den Waisen am Tag ihres 18. Geburtstags effektiv eine Wohnung zugewiesen wird. Aber in anderen Gegenden der Russischen Föderation müssen Waisen während vieler Jahre auf eine kostenlose Unterkunft warten.
Ist die Wartefrist sehr lang, werden manchmal Bescheinigungen ausgehändigt, mithilfe derer eine Unterkunft bezahlt werden kann. Doch ein solches Zertifikat genügt oft nicht, und die Waise steht vor einer rein theoretischen Wahl: noch viele Monate warten, um eventuell eine Wohnung zu bekommen, oder ein Darlehen aufzunehmen.
Aber wo soll man warten? Auf der Strasse? Ein Darlehen aufnehmen, aber wie, wenn man keinen festen Wohnsitz und keine Arbeit hat?
Und das Gleiche gilt für die Jugendlichen, die infolge des Kriegs in der Ukraine zu Waisen wurden.

Wie kann man handeln, wenn man ein Nichts ist?
Es kommt oft vor, dass die Vormundschaftsbehörden einfach keine Papiere für die Zuweisung einer Unterkunft abgeben und die Sozialwaise nicht weiss, dass sie ein Recht auf eine staatliche Wohnung hat.
Diese Nachlässigkeit kann zu langen gerichtlichen Verfahren führen. Aber es ist nicht einfach, vor Gericht zu gehen, wenn man nichts hat.
Und selbst mit einem positiven Gerichtsentscheid ist es nicht leicht, eine Wohnung zu erhalten.
Deshalb steht ein junger Erwachsener von 18 Jahren der Bürokratie in seiner schlimmsten Ausprägung gegenüber, der Gleichgültigkeit des Staates, die seine Zukunft infrage stellt.

Das muss sich ändern.
Wenn das Unterrichtsprogramm in den Waisenhäusern mehr Gewicht auf die Vermittlung von Kenntnissen in Wirtschaft und Recht legen würde und wenn die Vormundschaftsbehörden die Gesetze einhalten würden, die den Staat verpflichten, den Waisen eine kostenlose Unterkunft zur Verfügung zu stellen, dann wären Kirill und Anton nicht bei Nochlechka registriert, sondern könnten in ihrer eigenen Wohnung leben.
Im Jahre 2022 machten Waisen 9% der Personen aus, die wir aufgenommen haben.

Die «Bjez»
Die papierlosen Waisen, die «Bjez», tragen einen passenden Übernamen, denn «bjez» bedeutet auf Russisch «ohne».
Sie sind ohne familiäre Beziehungen, beziehen keine oder nur geringe staatliche Unterstützung, sie haben kein Gesicht für die russische Verwaltung, keine Propiska, und sie sind folglich von allen verlassen. Sie können nur auf der Strasse überleben.
In Sankt Petersburg und in Moskau gibt es Hunderte solcher Waisen.

Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schenken. Erst recht jetzt, wo es hier immer noch Winter ist.

Wichtig: Trotz der gegen Russland verhängten Sanktionen ist es uns immer noch möglich, Ihre Unterstützungsbeiträge zu überweisen.

 

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