Menschenwürde

Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, sich sauber zu fühlen, nachdem man eine warme Dusche genossen hat. Die Haare sind geschnitten, die Kleider gewaschen und, was besonders wichtig ist, meine Decke ist vom Schmutz befreit.
Nennen wir sie Arina. Sie ist 65 Jahre alt, hat schneeweisses Haar und erzählt uns, dass sie seit 1992 auf der Straße überlebt. 32 Jahre, in denen ich alle Aggressionen, Hunger, Durst und die unfreundlichen Jahreszeiten ertragen musste, betont Arina.

So viele Strapazen
Diese Decke trage ich überall mit mir herum, sie verlässt mich nicht, sie ist wie mein Kuscheltier, sie hält mich warm und tröstet mich.
Ich schlafe in stehenden Zügen, ich gehe am so genannten Platz der drei Bahnhöfe von einem Bahnhof zum anderen.
Das ist natürlich unbequem. Immer wieder wird man gestört, Jugendliche kommen und schreien mir ins Ohr: Kompagnie, aufstehen! Kürzlich, um ein Uhr nachts, kam ein Mann und begann mich zu fragen, warum ich hier schlafe.
Ich schlafe einfach, was geht dich das an, antwortete ich ihm schroff.
In den Bahnhöfen ist es schwierig, seine Toilette zu machen, da es so viele Menschen gibt und die Toilettenfrauen uns nicht immer erlauben, uns zu waschen. Sie befürchten, dass wir mit unserem Dreck ihre Toiletten verschmutzen könnten. Von wegen.

Eine Oase der Ruhe
Hier bei Nochlechka kann ich in Ruhe eine heisse Dusche nehmen, während meine Kleider in der Maschine gewaschen werden. Ich kann mich entspannen, mich von der Coiffeuse verwöhnen lassen, einen Film anschauen, mit den Sozialarbeiterinnen plaudern und mir die Beine vertreten. Wussten Sie, dass, um sich zu entspannen, die Füsse höher sein müssen als der Kopf? Aber wo könnte ich mich am Bahnhof so hinlegen?
Der einzige Fehler der Dusche ist, wenn ich das so sagen darf, dass sie uns an unseren Verfall, unseren Verlust an Menschenwürde erinnert.
Hier im Aufnahmezentrum geben sie uns auch neue Kleidung, das Nötigste für unsere weibliche Körperpflege. Sie sind so fürsorglich.
Ja, Nochlechka hat mir angeboten, mich rauszuholen, mich hier unterzubringen, bis sie eine Wohnung oder vielmehr ein Heim für mich gefunden haben. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste.
Aber ich befürchte, dass ich mich nicht mehr an ein Leben anpassen kann, das von Zeitplänen bestimmt wird. Ich weiss es nicht, wir werden sehen.

Unsere Welt macht ihnen Angst
Arina ist vor ihrem Mann geflohen, weil er sie geschlagen hat. Zunächst fand sie Zuflucht in einem ehemaligen öffentlichen Bad. Dort war alles verwahrlost, es gab nicht einmal Wasser, der Gipfel für ein öffentliches Bad. Immerhin gab es ein Dach und Wände, die mich vor schlechtem Wetter schützten, erinnert sie sich.
Später zog Arina an den Platz der drei Bahnhöfe, wo mehr Menschen lebten und weniger Unsicherheit herrschte.
Personen, die auf der Straße überleben müssen, empfinden unsere Aussenwelt als sehr beängstigend. Das ist verständlich, denn sie werden von dieser „zivilisierten Welt“ vehement abgelehnt und verunglimpft, wie Mascha Muradova, eine unserer Sozialarbeiterinnen, betont.
In der Tat hat eine obdachlose Person wenig Selbstvertrauen und kann nicht glauben, dass sie es schaffen könnte. Sie hat Angst, in unserer geregelten Gesellschaft unterzugehen.
So gesehen geben unsere Unterkünfte solchen Menschen Sicherheit und Parameter, die für sie psychisch zu bewältigen sind.

Die Duschen
Es gefällt uns nicht, dass einige von ihnen schlecht riechen, aber es kommt uns nie in den Sinn, dass obdachlose Sans-Papiers einfach keinen Ort haben, wo sie sich waschen und ihre Wäsche machen können, sagt Andrej Schapajev, Leiter der humanitären Projekte von Nochlechka.
Aufgrund dieser Erkenntnis wurde am 7. November 2020 nach 48-monatigen Bemühungen ein Raum eröffnet, in dem sich obdachlose Sans-Papiers waschen und ihre Kleidung reinigen können. Eine Premiere in Russland.
Im März 2021 installierte Nochlechka St. Petersburg auch Duschen im Hof.
Anfang August 2021 ist Nochlechka Moskau an der Reihe, sanitäre Einrichtungen für die Ärmsten der Armen anzubieten.
Im Mai 2022 richtete Nochlechka Duschtage speziell für Frauen ein.

Ein besonderer Empfang
Daria Baibakova, Leiterin von Nochlechka Moskau, erklärt: Vor zwei Jahren stellten wir fest, dass sich unsere Kundinnen allzu oft in der Gegenwart von Männern unwohl fühlten. In Gesprächen mit ihnen erzählten sie uns von ihren Ängsten vor männlichen Obdachlosen. Um solchen Ängsten entgegenzuwirken, wurden spezielle Öffnungszeiten nur für obdachlose Frauen eingerichtet.
Das sprach sich herum, die Mund-zu-Mund-Propaganda funktionierte. Seitdem kommen immer mehr Frauen zu uns, um Hilfe zu erhalten, unsere Duschen und unseren Wäsche- und Coiffeurservice zu nutzen.

In Sankt Petersburg und Moskau gibt es Hunderttausende von Frauen, die sich wie Arina durchs Leben schlagen.
Unsere Aufgabe ist riesig. Danke, dass Sie uns helfen, Leben zu retten.

Wichtig: Trotz des Boykotts ist es uns weiterhin möglich, unsere finanzielle Unterstützung an Nochlechka weiterzuleiten.

 

 

 

 

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