Geheilt

Für mich lief es gut, bis ich einen Rückfall hatte. Und es begann alles wieder von Neuem: die Drogenhölle, das Gefängnis und das Leben auf der Strasse, erzählt Viktoria, die mit anderen Frauen zusammen an einem Tisch sitzt. Sie alle kennen die Qualen des Alkoholismus, der Drogensucht und der Obdachlosigkeit. Mithilfe von Nochlechka versuchen sie da rauszukommen.

Der Absturz
Im Rehabilitationszentrum beginnt die Morgenversammlung immer Punkt 10 Uhr. An diesem Ort, der speziell für obdachlose und papierlose Frauen geschaffen wurde, versammeln sich die Patientinnen unter der Leitung der Koordinatorin des Projekts, Maria Muradova, und der Beraterin Alexandra, die hier alle Sascha nennen.
Wie üblich bei dieser Art von Therapie, stellt Viktoria den anderen Teilnehmerinnen ihr bisheriges Leben vor.
Ja, alles ging gut, ich hatte eine Wohnung und eine Arbeit, und zusammen mit meiner Schwester haben wir sogar Ferien in Marokko verbracht. Aber leider bin ich eines Tages einer alten Bekannten aus dem Drogenmilieu über den Weg gelaufen. Sie hat mir Drogen angeboten und ich konnte nicht widerstehen. Das war ein schwindelerregender Absturz.
Die Polizei hat mich erwischt und ins Gefängnis gesteckt. Meine Schwester wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Im Gefängnis musste man alles kaufen, und ich hatte keine einzige Kopeke. Ich habe mich entschlossen, meine Wohnung zu verkaufen. Der Immobilienmakler hat mir aus dem Erlös des Verkaufs Taschengeld gegeben und mir vorgeschlagen, das Kapital in ein Unternehmen zu investieren. Ich habe ihm das ganze Geld gegeben. Den Rest können Sie sich vorstellen. Heute sitzt er im Gefängnis.
Ich selbst war von 2021 bis 2024 in Haft.

Völlig besitzlos
Als ich aus dem Knast kam, besass ich überhaupt nichts mehr. Nicht einmal Identitätspapiere. Es blieb mir nur das Leben auf der Strasse, der physische und geistige Zerfall. Es war die reinste Hölle. Im Spätherbst lebte ich in einer Bruchbude, die jedem Luftzug und sogar dem Regen ausgesetzt war. Meine Beine waren von eitrigen Geschwüren bedeckt. Eines Morgens wachte ich mit hohem Fieber auf und konnte mich kaum noch bewegen. Ich dachte, ich würde sterben und hatte schreckliche Angst.
Olga, eine Obdachlose wie ich, ging Hilfe holen. Man schickte einen Krankenwagen und brachte mich in ein Spital. Dort haben sie mir die Beine verbunden und mich gepflegt. Aber nach ein paar Tagen sagten sie mir, dass ich gehen müsste. Ich war in Panik, ich wollte nicht mehr in diese Hütte zurück. Zum Glück hat ein Pfleger Nochlechka angerufen. Die holten mich ab.

Der Zufluchtsort
Ich wurde im Aufnahmezentrum von Nochlechka untergebracht. Man hat mich mit Nahrung, und Kleidern versorgt, hat mich gepflegt und sich um mich gekümmert. Und vor allem hatte ich jetzt ein Dach über dem Kopf. Ich erholte mich rasch.
Nach einer gewissen Zeit schlug man mir vor, ins Haus «Auf halbem Weg» zu gehen (Halfway House, so nennt sich das Wiedereingliederungsprogramm), wo die Drogensüchtigen und die Alkoholiker therapiert werden. Zuerst wollte ich nicht. Ich hatte schon gehört, dass dort eine strenge Disziplin herrsche, dass die Begegnung mit den anderen Süchtigen herausfordernd sei und man verpflichtet sei, ein Tagebuch über die Therapie zu führen.
Aber jetzt bin ich da.
Maria Muradova erklärt, wie die Therapie abläuft: Zuallererst führen wir die obdachlosen Frauen, die wir entweder auf der Strasse oder gelegentlich auch in einem Spital aufgelesen haben, in unser Aufnahmezentrum. Dort dürfen die Frauen mindestens zehn Tage lang weder Alkohol noch Drogen konsumieren.
Wir müssen uns vergewissern, dass eine Frau, die ins Rehabilitationszentrum kommt, nicht unter dem Einfluss von Suchtmitteln ist. Wenn hier eine Person auch nur einmal Drogen oder Alkohol konsumiert, wird sie rausgeworfen. Alle Frauen werden bei ihrer Ankunft darüber genau informiert.

Engmaschige Betreuung
Die Therapie dauert sechs Monate. Die wichtigste Bedingung, um aufgenommen zu werden, ist der starke Wunsch, geheilt zu werden. Ausserdem muss die Frau alle vorgegebenen Regeln einhalten.
Um acht Uhr (am Wochenende um neun Uhr) ist Tagwache, um Mitternacht Lichterlöschen. Wenn die Lichter gelöscht sind, darf man nicht mehr fernsehen, Musik hören oder laut sprechen. Wie Sie sehen, sind diese fixen Uhrzeiten nicht allzu streng, betont Maria. Ausserdem verfügen die Frauen auch über Freizeit. Und sie haben ihre Privatsphäre.
Am Morgen gibt es zuerst Gymnastik und anschliessend Frühstück. Um zehn Uhr finden sich alle um den Tisch im Essensraum ein, wo wir die Stimmungslage jeder Frau abklären.
Dann werden Gruppensitzungen mit einer Psychologin abgehalten, bei denen die Patientinnen, angeleitet von unserer Beraterin, schriftliche Aufgaben erledigen müssen.
Die Frauen werden auch abwechslungsweise bei der Vorbereitung der Mahlzeiten eingesetzt. Nach dem Mittagessen haben sie frei. Dreimal pro Woche nehmen sie an den Gruppentreffen der Anonymen Alkoholiker teil. Um 22 Uhr findet eine letzte obligatorische Versammlung statt, an der die Patientinnen die Resultate des Tages zusammenfassen müssen.

Auf halbem Weg
Maria berichtet weiter: Während die auf diese Weise «geretteten» Frauen im Rehabilitationsheim leben, helfen ihnen unsere Anwältinnen, Psychologen und Sozialarbeiterinnen dabei, die Identitätspapiere wieder zu beschaffen, die körperliche und mentale Gesundheit zu verbessern und eine Arbeit zu finden.
Im Laufe der ersten Monate des Programms gewöhnen sich die Patientinnen an die neuen Bedingungen, finden wieder zu sich selbst und lernen, ohne Medikamente zu schlafen. Vergessen wir nicht, dass viele, die hierher kommen, knapp dem Tode entronnen sind.
Was wir ihnen vor allem vermitteln können, ist das Gefühl, hier in Sicherheit zu sein. Das ist sehr wichtig, damit sie ihr neues Leben in Angriff nehmen können, denn es ist die Angst, die zum Konsum von schädlichen Substanzen führt. Ungefähr ab dem dritten Monat können die Frauen damit beginnen, an eine andere Zukunft zu denken, an eine Arbeitsstelle, eine Wohnung, einen stabilen Alltag. Sie stehen somit auf halbem Weg.

In Moskau und in Sankt Petersburg überleben tausende obdachlose Frauen ohne Papiere unter unwürdigen Bedingungen. Sie brauchen unsere Hilfe.

Im Winter ist unsere Aufgabe noch grösser als sonst. Unterstützen Sie uns. Retten Sie Leben.

Wichtig: Trotz des Boykotts ist es uns weiterhin möglich, Ihre Unterstützung weiterzuleiten.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

This site is protected by reCAPTCHA and the Google Privacy Policy and Terms of Service apply.