Sie existieren ohne Ort zum leben, ohne eigene Persönlichkeit. Für die russische Macht haben sie kein Gesicht. Ganz auf sich alleine gestellt und von allen verlassen irren sie, wie trügerische Schatten durch die Strassen und versuchen zu überleben. Sie ? Es sind Kinder ohne Obdach und ohne Dokumente.
In Russland gibt es etwa 5 Mio. Von ihnen : verwahrloste Kinder ohne Eltern, ohne Familienbindung, ohne irgendwelche Unterstützung.
«Mit 4 Jahren wurde ich erwachsen»
Die Geschichte von Dima, dem 16-jährigen Teenager stellt das traurige Schicksal der Kinder dar, die niemand haben will: Alkoholiker als Eltern, Gewalt, Kinderheim, weder Hilfe und Schutz vom Staat und die ewige Angst den nächsten Tag nicht zu überleben.
Ich traf ihn an der Essensausgabe, die täglich von der Petersburger NGO Nochlezhka organisiert wird, eine der wenigen Organisationen, die sich den Menschen ohne Dokumente, und somit ohne Persönlichkeit, annimmt. Dima, der alleine in der Reihe der hungrgen Bedürftigen stand, unterhielt sich mit niemandem, schlürfte bloss seine Suppe, inmitten der anderen. Ausgeschlossen und eingeschüchtert erzählte er:
– «Meine Mutter war Epileptikerin. Es war schrecklich. Besonders übel war der Anblick ihrer Anfälle, wenn sie getrunken hatte. Ich fürchtete mich immer vor ihren Krisen. An den Vater erinnere ich mich gar nicht. Man sagt, dass er eine andere gefunden hatte, und uns sitzen liess. Bei uns zu Hause gab es keine Möbel. Es gab gar nichts: Weder Kühlschrank, noch Fernseher, noch Bett. Wir schliefen auf dem Boden. Es gab nur Flaschen. Zu Essen gab es nie. Vor Hunger fing ich an zu betteln, damals war ich vier Jahre alt. Das klappte nicht schlecht. Ich fühlte mich fast erwachsen. Einmal erwischte mich bei einer der Metrostationen ein Polizist. So gelang ich ins Waisenhaus von Pavlovsk, einem Petersburger Vorort. Meine Mutter starb als ich acht Jahre alt war. Ich habe sie jedoch nicht mehr gesehen, nachdem man mich von der Strasse aufgelesen hatte».
Vom Waisenhaus auf die Strasse
Nach dem Bericht der internationalen Organisation „Human Rights Watch“ werden in Russland jährlich 15‘000 Jugendliche, die die Volljährigkeit erreicht haben, oder noch nicht ganz, aus spezialisierten Institutionen (Waisenhäuser, Internate, Kinderheime) entlassen. Im Laufe des ersten Jahres werden ca. 3000 (20%) zu Obdachlosen, etwa 5000 (30%) werden straffällig und etwa 1500 (10%) beenden ihr Leben durch Selbstmord. In Sankt Petersburg leben 10‘000 obdachlose Kinder auf den Strassen und von ihnen haben, so meinen die Ärzte, etwa 3000 AIDS.
Nach dem Fall des kommunistischen Regimes stieg die Zahl der obdachlosen Kinder stark an, sie wurden zu einer Massenerscheinung und dies hatte für diese Generation der Waisen gravierende Folgen. Nach den Daten des russischen Bildungsdepartementes wird annähernd 60% der Entlassenen aus den Waisenhäusern keine Wohnmöglichkeit gegeben.
„Meine Wohnung nahm mir ein Polizist weg“
Bei Dima begann das katastrophale Leben gleich nach seinem Austritt aus dem Kinderheim. Er erfuhr, dass er keinen Wohnort mehr hatte.
– « Nach dem Tod meiner Mutter erhielt meine Tante, ebenfalls Alkoholikerin, die Wohnung. Sie hat die Zimmer an einen Polizist des Reviers weitervermietet. Dieser klaute ziemlich viel Geld – 90% des Mietgeldes. So geht das bei uns. Nach meinem Austritt aus dem Kinderheim sagte ich mit ihm, dass ich gerne in einem der Zimmer wohnen wollte, da ich ein Recht darauf hatte. Als er sah, dass ich ziemlich entschlossen war, drohte er, mich ins Gefängnis zu stecken. Von da an tauchte ich unter, und das bekam mir nicht sehr gut. »
Dass sich korrupte Beamte durch Betrug Wohnungen aneignen, ist ein häufiges Phänomen in Russland. Und hauptsächlich Waise und Jugendlichen werden Opfer davon.
Die „Propiska“ oder höllische Qualen einer Person ohne Dokumente
Momentan hat Dima keine Arbeit. Ohne Propiska hat er keinen offiziellen Wohnort.
In diesem System gibt es keine Logik: verliert man die Wohnung, geht auch die Propiska flöten. Und ohne Propiska ist es unmöglich eine Unterkunft zu suchen, Arbeit zu finden, innerhalb des Landes umherzureisen oder die Anerkennung der eigenen Bürgerrechte durchzusetzen. Man hat also weder das Recht auf Arbeit, noch auf ein Dach über dem Kopf, noch das Stimmrecht und auch soziale Hilfe und Hilfe vor Gericht bleibt einem verweigert.
Dima sammelt für sein tägliches Überleben Metallstücke zusammen (Kupfer, Zinn, Bronze) oder er putzt an den Ampeln Windschutzscheiben. Mit drei Euros pro Tag muss er überleben, gerade genug, um nicht vor Hunger zu sterben. Als Schlafstelle dienen ihm ungemütliche Keller.
Zusammenfassend sagt Dima:
– “Glücklicherweise gibt es die Organisation Nochlezhka und deren Nachtbus. Dies bedeutet für mich eine warme Mahlzeit pro Tag, Medikamente, wenn ich mich nicht gut fühle, und auch die Aufmunterung der Freiwilligen.“
Der Nachtbus
Heute sind Dima und andere Obdachlose sehr beunruhigt. Die Weiterführung der Verteilung von Mahlzeiten ist in Frage gestellt, da es an Geldmitteln fehlt. Die Auswirkungen der Krise zeigen sich nun genau hier: viele Partner-NGO’s von Nochlezhka sehen sich gezwungen ihre versprochene Hilfe zurückzuziehen. Beinahe 9000 Mahlzeiten würden ausfallen, falls nicht genug Geld zur Sicherung der Nord- und Südroute des Busses zusammenkommt.
Um eine so tragische Situation zu vermeiden, führt Nochlezhka Suisse Solidaire die Kampagne zur Sammlung von 25.000 Euro durch. Tragen auch Sie dazu bei, dass die Petersburger Sans-Papiers ihren Status als Mensch nicht verlieren. Unterstützen Sie die Kampagne „Rettet den Nachtbus“.
Texte : Natacha Nikolaeva / Pierre Jaccard