Die Verbannten

Meine Wunden auf den Händen wollen nicht mehr verheilen. Ja, ich bin seit zehn Jahren seropositiv. Solange ich noch in meiner Herkunftsregion Sverdlovsk gewohnt habe, erhielt ich auf Verordnung des lokalen Aids-Beratungszentrums gratis eine HIV-Therapie. Die HIV-Medikamente haben die virale Belastung meines Körpers unter Kontrolle gehalten und damit verhindert, dass sich die Krankheit verschlimmern konnte, erklärt uns Sergej. Der Name ist ein Pseudonym, da es in Russland, wie in vielen Weltgegenden, immer noch besser ist, sich nicht als HIV-positiv zu outen.

Die Strasse, die Krankheit
Vor zwei Jahren musste ich wegen familiärer Probleme aus meiner Wohnung ausziehen. Ich landete in Moskau, wo ich zu einem Sans-Papiers wurde.
Ich habe auf der Strasse gelebt und hatte keinen Zugang zu den Medikamenten, da ich keine Propiska habe. Und da sich mein Gesundheitszustand verschlimmerte, war es mir auch unmöglich, schwarz zu arbeiten.
Die Viruslast von Sergej erhöhte sich, sein Körper wurde schwächer, seine Wunden verheilten nicht mehr.

Keine Papiere, keine Behandlungen
Eines Tages wurde die Ärztin, die ehrenamtlich im Nachtbus arbeitet, auf Sergej aufmerksam. Sie hat sofort seinen kritischen Gesundheitszustand erkannt.
Nochlechka rief den Arzt des nationalen Aids-Zentrums an, damit Sergej getestet werden konnte.
In wenigen Tagen erhielt Sergej eine Therapie, zum ersten Mal seit mehreren Jahren. Aber damit die Behandlung regelmässig durchgeführt werden kann, muss sich Sergei im regionalen Aids-Zentrum anmelden.
Und genau das ist für ihn unmöglich, da eine Person ohne Propiska kein Recht dazu hat.
Ohne Behandlung verschlimmert sich die Gesundheit einer aidskranken Person massiv, erst recht, wenn sie gezwungen ist, auf der Strasse zu leben.

Die Prophylaxe, eine Vogel-Strauss-Politik
In Russland haben nicht nur obdachlose Sans-Papiers keinen Zugang zu HIV-Therapien. Auch für den Normalbürger ist es schwierig. Das erklärt, weshalb Aidserkrankungen in diesem Land nicht abnehmen.
Laut UNAIDS ist HIV seit 2010 in der ganzen Welt um 38% zurückgegangen. In Russland hingegen nehmen die Ansteckungen zu.
Gemäss der WHO waren in Russland im Jahr 2021 1,5 Prozent der Bevölkerung seropositiv, während in Deutschland der Anteil bei 0,1 Prozent lag.
Der Grund für diesen Unterschied liegt in der Verteufelung von Aids. Es gibt Patienten, die aus moralischen Gründen keine Medikamente erhalten, andere streiten ihre Krankheit ab, um nicht stigmatisiert zu werden.

Der gesellschaftliche Druck
Tatsache ist, dass der Staat und ein grosser Teil der Bevölkerung die Aidskranken als unmoralische Menschen betrachten, da ihre Krankheit mit Sex und Drogenkonsum in Verbindung gebracht wird.
Hinzu kommt noch, dass in den sozialen Medien Russlands auch Theorien verbreitet werden, die behaupten, dass HIV eine Krankheit sei, die von den USA absichtlich in Umlauf gesetzt worden sei.
In Russland konzentrieren sich die Präventionskampagnen auf den Begriff der Treue und auf die traditionellen Werte der Familie, nicht auf Schutzmassnahmen wie Präservative.
Die Ärztin Ulla Pape schreibt in den Spalten des Journal of International Affairs:die Tatsache, dass das HIV-Problem auf die moralische und politische Ebene beschränkt ist, verhindert jede gesamtheitliche Prävention und erklärt, weshalb Aids in Russland im Vormarsch ist …

Das Gesetz, das am Donnerstag, dem 24. November 2023, von der Duma verabschiedet worden ist und jegliche Verbreitung von nicht traditionellen Geschlechtsbeziehungen wie Homosexualität verbietet, trägt auch nicht zu einer besseren Aidsprophylaxe bei.

Kafkaesk
Paradoxerweise betonen sowohl der Föderative Rat der Sozialbehörden als auch das Gesundheitsministerium, es sei unakzeptabel, eine HIV-Therapie wegen fehlender Propiska zu verweigern.
Nichtsdestotrotz lassen sich die regionalen Aidszentren viel Zeit, diese Empfehlungen umzusetzen.
Es zeigt sich also, dass es zwar Aidszentren gibt, dass es Gesetze gibt, die die Rechte der seropositiven Menschen schützen, aber dass es trotzdem unmöglich ist, die Therapien allen zugänglich zu machen.
Verstehe das, wer will.
Währenddessen teilt uns Zenia, Sozialarbeiterin bei Nochlechka, mit, Sergej sei nach Sankt Petersburg zum Empfangszentrum gekommen, wo Anwälte ihr Möglichstes tun, damit er seine administrative Identität zurückerhält, eine Langzeittherapie beginnen kann und dadurch eine Überlebenschance hat.

Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, Leben zu retten. Es ist Winter!

Wichtig: Trotz der gegen Russland verhängten Sanktionen ist es uns immer noch möglich, Ihre Unterstützungsbeiträge zu überweisen.

 

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