Alexandra, eine Sklavin

Die einzige Sprache waren Schläge, Schläge für dies und für das, Schläge auf den ganzen Körper. Sie haben nicht aufgehört, mich zu schlagen, erzählt Alexandra, völlig verängstigt, nachdem sie auf wundersame Weise aus einem Arbeitslager entkommen konnte.
Es ist verrückt, wenn man realisiert, dass man heutzutage, wo vermeintlich alles rechtsstaatlich zu- und hergeht, eine Person ihrer Freiheit berauben, sie wie eine Sache verkaufen kann, sie demütigen und foltern darf, entrüstet sich Maria, eine Sozialarbeiterin von Nochlechka, wo Alexandra Zuflucht gefunden hat.

Der grosse Schrecken
Alexandra, etwa vierzigjährig, wurde plötzlich zu einer Gefangenen auf einem Bauernhof an der Grenze zwischen Kasachstan und Russland, in der Gegend von Qostanai.
Ein paar Monate vorher floh sie vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Die Suche nach Arbeit war erfolglos, ihre spärlichen Ersparnisse schwanden dahin. In ihrer Verzweiflung entdeckt sie eine Kleinanzeige für einen gut bezahlten Job auf dem Land. Sie telefoniert und es wird ein Treffen vereinbart. Später kommen noch ein paar schöne Versprechungen dazu, und nach einer langen Autofahrt kommt sie früh morgens bei einem landwirtschaftlichen Betrieb an. Dort nimmt man ihr bei der Ankunft all ihre persönlichen Gegenstände sowie ihren kasachischen Pass weg und gibt ihr eine gelbrote Uniform zum Anziehen.
Die Falle schnappt zu. Alexandra wird zu einem Schlafsaal geführt, wo die Aufseher mit gellender Stimme und mit Fusstritten an die Betten die Leute wecken. In diesem beängstigenden Gelärme weist man ihr einen schäbigen Strohsack zu.

Reine Brutalität
Nach dem Appell bleibt kaum Zeit, eine Art durchsichtige Brühe runterzuschlucken. Dann werden Alexandra und die andern mit Fusstritten und Prügeln zu den Feldern getrieben, wo sie Kartoffeln ernten müssen. Hunde laufen nebenher und beissen zu, wenn die Leute nicht schnell genug gehen.
Für Alexandra beginnen schlimme Wochen, in denen sie diversen Misshandlungen, auch sexueller Art, ausgesetzt ist.
Ich erhielt die ganze Zeit Schläge, erklärt Alexandra mit Mühe. Was für eine Tortur für mich und all die anderen Menschen, die wie der letzte Dreck behandelt wurden.
Man gab uns nur das absolut Notwendigste zu essen und zu trinken, nur gerade so viel, dass wir nicht zusammenklappten. Die Dusche, das war ein eiskalter, starker Wasserstrahl, den einer der Wächter über uns hielt. Wir hatten nicht die geringste Intimsphäre. Wenn eine Person krank wurde und nicht arbeiten konnte, wurde sie aus dem Lager gebracht. Wir erfuhren nie, was dann geschah. Wir waren immer unter Aufsicht, die Schreie, die Schläge, die erschöpfende Arbeit während mehr als 12 Stunden, am Tag und auch in der Nacht. Unser Schlafsaal hatte kein Fenster und wurde abgeriegelt. Die Luft drin war verpestet.

Die Flucht
Ich wusste, dass ich draufgehen würde, wenn ich es nicht schaffte, zu fliehen. Es gelang mir, die NGO Safe House zu kontaktieren (diese NGO beschäftigt sich mit Menschenhandel).
Dann stand ich auf der Strasse, in Moskau, ohne Identitätspapiere. Und ich irrte umher.
Wie konnte sie entkommen? Wie ist sie in der russischen Hauptstadt gelandet? Darüber will uns Alexandra nichts erzählen, da sie niemanden kompromittieren möchte.
Wissen Sie, erklärt uns Maria, die Sozialarbeiterin, die meisten dieser Opfer kommen während mehrerer Tagen oder sogar Wochen zum Nachtbus oder in unser Aufnahmezentrum, bevor sie um Hilfe bitten. Denn sie brauchen Zeit, bis sie wieder jemandem vertrauen und überzeugt sind, dass sie bei Nochlechka in Sicherheit sind.
Solche Fälle von Sklavenhaltung findet man auch in Russland. Siehe Artikel.

Immer wieder warnen wir unsere obdachlosen Sans-Papiers, sich vor den Inseraten in Acht zu nehmen, die solche Wunder versprechen. Denn sie führen direkt in die Verknechtung, erklärt Maria.
In diesem Zusammenhang hat die Duma (das russische Parlament) im Dezember 2023 ein neues Gesetz zum Arbeitsrecht verabschiedet, in dem unter anderem im Kapitel 13 folgendes ausgeführt wird: „Jede berufliche Tätigkeit, die unter Verletzung des gesetzlich festgelegten Verfahrens zur Formalisierung von Arbeitsverhältnissen ausgeübt wird, gilt als illegale Anstellung und ist verboten …”
Aber die Bedeutung, die der neue Begriff „illegale Anstellung“ enthält, kann zu einer unklaren Interpretation der Rechtsnorm führen.

Vorwärts gehen
Die Sozialarbeiterin erzählt weiter: Alexandra lebt jetzt im Aufnahmezentrum. Wir helfen ihr dabei, dass sie ihren Pass und andere Dokumente zurückerhält. Aber vor allem schauen wir, dass sie wieder auf die Beine kommt, sowohl physisch als auch psychisch. Sobald es ihr besser geht, werden wir für sie eine Arbeit suchen.
Alexandra hat schwerwiegende Probleme mit der Wirbelsäule. Auch ihr Geruchssinn ist stark beeinträchtigt wegen der vielen Schläge, die sie erhalten hat.

Bei Nochlechka machen wir alles, um zu verhindern, dass obdachlose Sans-Papiers Opfer von Menschenhändlern werden.

Danke, dass Sie uns weiterhin unterstützen. Unsere Aufgabe ist riesig. Wir retten Leben.

Wichtig: Trotz des Bankenboykotts kann unsere finanzielle Hilfe weitergeführt werden.

 

 

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