Die Geschichte von Alex Doschlikov fasst sehr gut zusammen, was in Russland jedem passieren kann, wenn ein unerwartetes Ereignis plötzlich den Verlust der Popiska verursacht.
Auf einen Schlag bricht der normale Tagesablauf in sich zusammen und die Existenzbedingungen ändern sich grundlegend.
Das Porträt von Alex Doschlikov ist Teil der Serie „Monolog mit den Obdachlosen“ der Journalistin Anastasia Riabtsev.
Seine Leidenschaft: Die Schweisstechnik
Alex Doschlikov, um die vierzig, ist in einem sehr zwielichtigen Quartir von Tscheliabinsk geboren. Hier folgt seine Geschichte:
Mein Vater verlässt die Familie, als ich eineinhalb Jahre alt bin. Ich habe ihn kaum gekannt. Zur Zeit lebt er in Kuban; er hat drei Kinder. Mit ihm kann man nicht kommunizieren. Seine Frau ist ein Monster.
2008 hat mir meine Mutter gesagt, ich solle nach Piter (St. Petersburg) gehen.
Im Ural hatten wir eine Wohnung, wir hatten alles. Sie hat aber entschieden, dass ich nach St. Petersburg gehe, weil man dort leichter Arbeit findet, man mehr verdienen konnte. So bin ich also in der Stadt angekommen, habe dort meine Bezugspunkte gefunden und habe begonnen, zu arbeiten.
Ich bin Schweisser, ich habe diesen Beruf mehr als 20 Jahre ausgeübt.
Ein chirurgischer Eingriff und man landet auf der Strasse
Vor drei Jahren wurde meine Mutter krank, sie hatte Probleme mit den Beinen. Sie war pensioniert und hatte deshalb Anrecht auf eine kostenlose Operation. Wir haben sie dafür angemeldet, mussten aber viel zu lange warten. Die Hilfe für Mamas Beine war dringend.
Die Operation war sehr teuer. Wir mussten dafür die Wohnung in Tscheliabinsk verkaufen. Eine Woche nach dem Eingriff verstarb meine Mutter. Auf diese Weise wurde ich zu einem Bürger ohne Ausweise.
Ein Kollege, mit dem ich seinerzeit bei der Firma Kirowskij arbeitete, tat alles, damit mich die Schiffswerft Admiralteiskij in St. Petersburg als Schweisser einstellt. Er hat während zweier Wochen für mich einen Arbeitsplatz offen behalten, der Sicherheitsdientst liess mich jedoch nicht ins Firmengelände.
Die Versuche, mich an der Adresse einer Freundin registrieren zu lassen, blieben erfolglos, da sie Schulden hatte und bereits zwei Personen dort eingetragen waren.
Ja, ohne Propiska habe ich meine gute Stelle verloren und musste für einen Monatslohn von 20-25 tausend Rubel (280-350 Franken) arbeiten.
Die Ausbeutung der Sans-Papiers
Alex Dischilikov fährt weiter:
Selbst wenn man Russe ist, kann man in Russland ohne Aufenthaltsgenehmigung keine offizielle Stelle finden. Ich versuchte mein Glück im Baugewerbe. Sie haben zu mir gesagt: „Komme hier arbeiten, aber vorher musst du eine ärztliche Untersuchung bestehen“. Ich hatte kein Geld für die Untersuchung. Die Stelle habe ich nicht bekommen.
Später hat man mir einen sehr gut bezahlten Auftrag in einem kleinen Weiler bei Murmansk angeboten.
Es ging darum, eine ehemalige Kaserne zu renovieren. Nach drei Monaten wurde man mit lediglich tausend Rubel (420 Franken) entschädigt. Man hatte uns betrogen und wir sind abgereist.
Als „Krönung“ haben uns die Arbeitgeber mit neuen Versprechungen und der Möglichkeit, den noch offenen Lohnanteil nachträglich zu erhalten, ein zweites Mal angelockt.
Ich habe mit Schweissarbeiten fortgefahren, dabei aber einen Unfall erlitten. Ich habe beim Besteigen eines Gerüstes die Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten und mich nicht gesichert.
Die Aufhängung brach, ich stürzte: beide Beine und beide Hände gebrochen, dazu einige Wirbel. Ich war bei der Firma schwarz angestellt. Sie liess mich fallen, ohne einen Kopeken Lohn. Es war die Baufirma „Tais“.
Nochlechka, ein Zufluchtsort
Ein Ambulanzfahrzeug brachte mich nach Murmansk, wo meine Wirbelsäule operiert wurde. Danach weilte ich in Kandalaksche zur Erholung. Da ich kein Geld hatte, bezahlte das Krankenhaus die Fahrkarte bis Piter. Dies war Ende April 2015.
Als ich nach St. Petersburg zurückkehrte, lebte ich einige Zeit bei einer Bekannten. Ich hatte weder Geld noch eine Propiska.
Was machen?
Ich musste mich an Nochlezhka wenden. Seit Juli lebe ich in ihrem Aufnahmezentrum. Ich absolviere ein physikalisches Rehabilitationsprogramm, anschliessend wird eine ärztliche Untersuchung folgen, um den Invaliditätsgrad festzulegen.
Ich habe keine Hoffnung mehr, je eine gute Stelle zu finden. Ich habe mich als Schweisser versucht, nach einer Stunde war Schluss, die Hände schmerzten infolge der Vibrationen zu stark. Ich werde nie mehr Schweisser sein. Ich habe ein paar Freunde, aber ich fühle mich sehr einsam.
Sein, wie die andern sind
Seit langem habe ich einen Traum. Ich wünsche mir sehnlichst, ein Zuhause zu haben, meine Frau in die Arme zu nehmen, mein Kind zu küssen…
Ein Traum aus der Vergangenheit, die Zeiten haben sich geändert: unmöglich für mich, eine Frau zu finden; ohne Geld, ohne Wohnung, ohne Auto, ohne Ausweise und ohne sozialen Status habe ich keine Chance. Niemand will jemanden wie mich, der ja gar nicht existiert.