
Andrei, 31 Jahre alt, lebt seit eineinhalb Jahren beim Bahnhof, nachden er bei einer grossen Bank rausgeschmissen worden sei, wie er uns erklärt.
Wissen Sie, das ist so, weil ich am Fernsehen aufgetreten bin. Ich war ein grosser Star, das haben sie auf der Bank nicht gemocht. Und dann hat es sicher auch noch was mit dem Kriegsrecht zu tun.
Ein grosses Durcheinander
Sehr oft beeinträchtigt der ständige Überlebenskampf die mentale Gesundheit eines Obdachlosen.
Die Anspannung ist so gross, dass die Person nicht mehr unterscheiden kann zwischen ihrer eigenen Realität und anderen Ereignissen, so dass beim Erzählen alles durcheinandergerät.
Andrei spricht sehr ruhig, sanft, ohne seinen Mundschutz abzunehmen. Er verdeckt den Verlust von zwei Schneidezähnen; es ist ihm unangenehm, sich so zu zeigen.
Wir reden zusammen in einem Café in der Nähe des Leningradsky-Bahnhofs. Andrei hat das Aufnahmezentrum von Nochlechka angerufen. Er möchte wissen, ob er sich uns anvertrauen kann, ob er zu uns kommen kann, erklärt Xenia Kosovtsova, die Sozialhelferin.
Die Stigmata der Strasse
Die Hände von Andrei sind voller Schorf. Er ist überzeugt davon, dass es sich um Vergiftungsspuren handelt. Sie verfolgen sie mich schon seit vielen Jahren, weil ich viel weiss, viel zu viel. Sie wollen mich zum Schweigen bringen.
Andrei hat sich mehrmals an die Polizei und die Staatsanwaltschaft gewandt, aber keine Antwort erhalten. Ist ja klar, sagt er, diese Stellen sind ebenfalls in die Verschwörung verwickelt. Sie wollen mich fertig machen.
Andrei bittet mich, ihm Tee und eine Box Nuggets bei KFK zu kaufen, erzählt Xenia Kosovtsova weiter. Ich habe seit acht Tagen nicht mehr gegessen, verstehen sie, sagt er eindringlich.
Misstrauisch
Ich habe grösste Mühe, ihn davon zu überzeugen, mit mir zu kommen. Ich kann ihm lange erklären, dass wir ihm zu essen geben und ihn pflegen können, dass er bei uns in Sicherheit ist. Andrei hat Angst, in eine Falle gelockt zu werden, erzählt uns Xenia Kosovtsova. Wissen Sie, sagt er, ich bin nur noch am Leben, weil ich so misstrauisch bin. Denken Sie, alle diese Sicherheitsleute, die mich verfolgen. Ich muss sehr vorsichtig sein. Auch Sie könnten zu denen gehören. Es gibt keinen Beweis dafür, dass es nicht so ist.
Er besteht darauf, mir zu zeigen, wo er schläft und ich folge ihm.
Ein unvorstellbares Versteck
Am Leningradsky-Bahnhof gibt es drei Etagen: das Untergeschoss, das Parterre und der erste Stock. Im Untergeschoss hat es drei Toiletten, im Parterre einen Zugang zu den Gleisen und ein Café, im ersten Stock Wartesäle.
Dort hat sich Andrei unter der Dachschräge eine Art Unterschlupf gebaut. Wie konnte er dorthin gelangen?, fragt sich Xenia Kosovtsova. Es ist mir ein Rätsel.
Eingezwängt in ein Gewirr verschiedener Röhren hat sich Andrei einen alles andere als hygienischen Schlafplatz eingerichtet.
Ich dringe darauf, dass er mit mir kommt, aber es ist nichts zu machen. Ich gebe ihm wenigstens eine Broschüre mit Informationen zu Nochlechka.
Chronische somatische Erkrankungen
Gemäss einer Untersuchung der französischen Nationalen Akademie der Medizin, die sich mit Obdachlosen befasst, hat die Ausgrenzung zahlreiche Risikofaktoren zur Folge. Psychische Leiden entwickeln sich schleichend und verschlimmern eine bereits bestehende Krankheit. Menschen, die ohne Obdach leben, eignen sich mit den Jahren Überlebensstrategien und oft wirksame psychische Abwehrreaktionen an. Andere, die sich weniger ans Leben auf der Strasse gewöhnen können, brechen sowohl psychisch als auch physisch zusammen.
Sobald die lebenswichtigen Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können, sobald sich das Suchtverhalten verschlimmert oder eine Drogenabhängigkeit beginnt und Einsamkeit und Langeweile immer grösser werden, häufen sich chronische somatische Erkrankungen.
Man kann alle Formen von Schizophrenie bei den Obdachlosen feststellen, da es sich um eine sehr ausgrenzende Krankheit handelt.
Auch paranoide Persönlichkeitsstörungen sind verbreitet. Sie konfrontieren uns mit der Frage, ob es sich um Wahnvorstellungen oder echte Verfolgung handelt. Manchmal ist es auch beides zusammen. Diese kranken Menschen versuchen uns dann von ihrer Interpretation des Alltags zu überzeugen.
Notfälle lindern
Bei Nochlechka treffen wir häufig auf solche Fälle. Zuerst versuchen unsere Psychologinnen und Psychologen, die Person zu stabilisieren. Unterdessen unternehmen unsere Anwälte alles, um zu erreichen, dass der oder die Obdachlose in einer Psychiatrischen Klinik aufgenommen wird, und sei es nur ambulant. Denn ohne Papiere ist es beinahe unmöglich, aufgenommen zu werden.
Was Andrei angeht, so hat er sich bis jetzt nicht gemeldet.
Unsere Aufgabe ist riesig. Helfen Sie uns, mehr Menschlichkeit zu schaffen.
Wichtig: Trotz der Boykottmassnahmen ist es uns weiterhin möglich, Ihre finanzielle Unterstützung weiterzuleiten.