Und was für ein Jubiläum. In diesem Monat September 2023 feiert Nochlechka ihre dreiundreissig Jahre Existenz.
Über drei Jahrzehnte Hilfe an die obdachlosen Sans-Papiers. Tausende und Tausende von Menschen sind Dank der unermüdlichen Arbeit ihrer Mitarbeiter, ihrer zahlreichen Freiwilligen und ihrer mannigfachen Unterstützungen gerettet worden.
Tausende Männer, Frauen und Kinder konnten eine „normalere“ Existenz zurückerlangen, wieder eine Arbeit finden und einen Neuanfang wagen, nachdem sie alles verloren hatten.
33 Jahre der Vermittlung von Hoffnung, Humanität offerieren, 33 Jahre zahlreicher Realisationen, die weder durch Covid noch durch den Krieg in der Ukraine gestoppt werden konnten.
Welch fantastische Entwicklung
Der Anfang liegt weit zurück, vergessen sind die unmöglichen Bedingungen, in welchen Nochlechka ihre ersten Schützlinge empfing.
Heute ist das Empfangszentrum an der Borovaya-Strasse 112b adrett, warm, vergessen sind die feucht-schwitzenden Keller, wo Nochlechka 1990 ihre ersten obdachlosen Sans-Papiers unterbrachte. Vergessen sind die Anfänge an der Borovaya-Strasse im 2000, wo es seinerzeit in diesem ramponierten Gebäude an allem fehlte. Seine selbstgebastelte, einfachste Einrichtung glich jedoch einem Palast nach den Missständen der ersten Jahre.
Am Anfang war
Oktober 1990, die UdSSR ist im Begriff, sich aufzulösen. Der Hunger ist allgegenwärtig. Unter der hungernden Menge Walery Sokolov, der Gründer von НОЧЛЕЧКА. Er weiss es noch nicht.
Sokolov arbeitet als Lagerist in einem Güterbahnhof. Er ist soeben aus der Ukraine zurückgekehrt, hat keine Unterkunft und keinerlei Identitätsausweise.
Beim Ansehen des antitotalitären Films von Alan Parker „The Wall“, der auf dem gleichnamigen Album von Pink Floyd basiert, hat Sokolov seinen sowjetischen Pass zerrissen.
Der Anwalt Yakov Gilinsky, ein Freund von Sokolov, beschreibt ihn als leidenschaftlich, typisch für die neunziger Jahre, jeglichen Bezug zum Staat verachtend.
Eine historische Trennung
Unter dem Kommunismus existierte durch eine magische, einfache Bürokratieschrift das Problem der Obdachlosigkeit nicht mehr.
In der Tat war es undenkbar, dass eine solche Problematik das Paradies des triumphierenden Sozialismus beflecken könnte. Und da die Entgleisungen nicht sein konnten, wurden sie einfach ausgelöscht. Die den Obdachlosen reservierte administrative Kategorie betraf von da an die Justiz. Sie wurden als Kriminelle betrachtet und damit war es erledigt.
Nein zur Willkür
Beim Zusammenbruch des Regimes erklärte Sokolov, dass es einfacher sei, schwarz zu arbeiten als Nahrung zu bekommen.
Für die obdachlosen Sans-Papiers war es unmöglich, Lebensmittel-Karten zu erhalten. Sie hatten keine Identitätspapiere, keine Propiska, und entsprachen deshalb keiner Verwaltungseinheit.
Aus diesem Grund gab es für Anatoly Sobtschak, den Bürgermeister von St. Petersburg, keine Obdachlose in der Stadt. Und trotzdem zählte man Zehntausende davon.
Angesichts dieser aufschlussreichen Feststellung gründet Sokolov entstetzt die karitative Vereinigung Nochlechka, auf russisch ein Dach für die Nacht. Sie installiert sich in einem besetzten Keller an der Puschkinskaya 10.
Sokolov „ergattert“ Nahrungsmittel-Karten und und verteilt sie an diejenigen, welche sie dringend benötigen. Mit gleichgesinnten Freunden verteilt er Konzentrat deutscher Suppe und Tee.
Bald verbringen 70 Obdachlose ihre Nacht im besetzten Haus.
Nochlechka ist geboren
Sokolov, arm wie seine Schützlinge, registriert Nochlechka offiziell im Januar 1991.
Die vorhergehenden drei Versuche scheiterten. Das Motiv „Gründung einer Vereinigung zugunsten der Landstreicherei…“ kann nicht akzeptiert werden, da Landstreicherei nicht existiert.
Um etwas Geld zu finden, gründet Sokolov die Zeitung „At the bottom“.
Nur die Obdachlosen dürfen sie verteilen. Sein Preis: zwei Kopeken, wovon eine für Nahrungsmittel für die Obdachlosen. Eine Zeitung, die ihre Sternstunde hatte, ihr redaktionneller Inhalt hoher Qualität zog sehr viele Leser an.
„At the bottom“ berichtete von den kulturellen Veranstaltungen in St. Petersburg und beschrieb die Existenz der obdachlosen Sans-Papiers.
Wir waren alle arm und hungrig
In den ersten Monaten gab es absolut nichts und es war nutzlos, Spenden zu sammeln, alle oder fast alle litten am Zusammenbruch des Regimes.
Alle waren wir arm und hungrig, jedermann lebte schlecht, unterstrich Walery Sokolov.
Ende 1990 war die Zeitung nicht mehr rentabel und schloss seine Türen.
Der Anwalt Gilinsky sagte ungefähr gleichzeitig, Walery Sokolov habe sich nicht mehr für das Thema der Obdachlosen interessiert.
Walery Sokolov wurde am Vorsitz der NGO durch den Kinderarzt und Psychiater Maxim Egorov ersetzt.
Langsam, sehr langsam kam Nochlechka zum Fliegen
Ende der Neunzigerjahre belief sich ihr Jahresbudget auf 1,100 Millionen Rubel, entsprechend etwa 10’000 CHF. Fünf Angestellte stellten die Permanenz der Organisation sicher, es gab keinen einzigen Freiwilligen.
Heute ist Nochlechka in St. Petersburg und seit 2020 in Moskau tätig.
Heute beträgt das Budget 202,8 Millionen Rubel, etwa 1,85 Millionen CHF.
Heute sind es 130 Voll- und Teilzeitmitarbeiter und man zählt 284 Freiwillige in Moskau und 636 in St. Petersburg.
Während 33 Jahren hat Nochlechka Tausende von Schicksalen gerettet.
Unsere Aufgabe ist immens, helfen Sie uns, Leben zu retten.
Wichtig: trotz der Boykott-Hindernisse gelingt es uns immer, unsere finanzielle Hilfe zu transferieren.