Im Rahmen seiner Interviewserie mit russischen Persönlichkeiten hat sich Nochlezhka dieses Mal mit Wiatscheslav Malafeev unterhalten. Herr Malafeev ist Torhüter der Fussballmannschaft Zenith St. Petersburg.
Unlösbare Fälle
Nochlezhka: Bevor wir mit dem eigentlichen Interview beginnen, wollen wir das Beispiel eines Bürgers anschauen, der seine Propiska verlor und damit seine administative Identität.
Es ist die Geschichte von Yvan. Er ist in St. Petersburg geboren und hat hier auch die Schule besucht, hat Wehrdienst geleistet, geheiratet und als Elektriker gearbeitet.
Nach der Scheidung ist er zu seiner Mutter zurückgekehrt. Als diese starb, wird er durch seine Schwester und den Schwager aus der Wohnung gejagt und lebt seither auf der Strasse.
Das Paar zwingt ihn, Unmengen Alkohol zu konsumieren, um ihn dann zur Unterzeichnung von Dokumenten zu überreden, mit welcher er auf sämtliche Ansprüche auf die elterliche Wohnung verzichtet.
Nachdem er einige Jahre auf der Strasse verbracht und dabei die Gesundheit ruiniert hat, lebt er jetzt im Heim von Nochlezhka. Hier helfen ihm die Sozialassistenten bei den administrativen Formalitäten, damit er eine Invalidenrente erhält und einen Platz in einem geeigneten Heim beantragen kann.
Leider ist auch der Fall von Yvan wie viele andere mehrere Jahre alt und damit häufig unlösbar, weil die Einsprache zu spät eingereicht wurde.
Wiatscheslav Malafeev: Im Prinzip gibt es eine Vorschrift, gemäss derer man innerhalb von drei Jahren handeln muss.
N: Ungefähr 25% der Leute, die sich an Nochlezhka wenden, sind Opfer von betrügerischen Transaktionen. Unter anderem sind die Betroffenen die Beute ihrer Nächsten oder von Immobilen-Agenturen. Einmal auf der Strasse, haben sie kein Geld mehr, um sich an einen qualifizierten Juristen wenden zu können.
WM: Ich verstehe. Meistens weigert man sich, einer schmutzigen und übelriechenden, obdachlosen Person zu helfen. Ich bin kein Robin Hood, ich bin aber bereit, ihren Schützlingen, die sich in einer heiklen juristischen Situation befinden, zu helfen. (Wiatscheslav Malafeev ist Besitzer der Immobilien-Verwaltung „M16-Immobilien“.
Ich habe Spezialisten auf diesem Gebiet. Sie erhalten bereits ihren Lohn und könnten Ihnen problemlos helfen.
Einige wenige Tage genügen, um den Halt zu verlieren.
N: Danke, Wiatscheslav, ein für uns völlig unerwarteter Vorschlag. Sie müssen zudem wissen, dass der Verlust der Wohnung noch andere Konsequenzen hat: Wenn sich jemand auf der Strasse befindet, genügen einige wenige Tage, damit er jeglichen Halt verliert.
Man hat keine Möglichkeit, sich zu waschen und die Kleider zu wechseln. Dies allein verunmöglicht es, eine Arbeit zu finden und man verliert schnell die Selbstachtung.
Dazu kommt: wenn jemand seine Papiere verloren hat oder sie abhanden kamen, verschlimmert sich die Situation zusätzlich: keine Arbeit und keine Krankenversicherung mehr, keine Rente mehr, gar nichts mehr. Der Sans-Papier wird wie ein Ausgestossener behandelt, er fühlt sich in kurzer Zeit unnütz.
WM: Falls sich eine Person damit begnügt, ein gemähliches Leben zu führen und sie sich plötzlich auf der Strasse befindet, besteht tatsächlich wenig Hoffnung, dass sie auf ihren eignenen Willen zählen kann, da die inneren Lebenskräfte bereits früher verloren gingen und die Person kein Vertrauen in die Zukunft mehr hat.
Aber diese Person hat vielleicht Freunde und Bekannte, die bereit sind, ihr zu helfen, sie zu beraten, zu ernähren oder sie sogar für einen Moment bei sich aufnehmen.
Wenn die Leute merken, dass der Sans-Papir bereit ist, sich selbst zu helfen, wird dieser bestimmt unterstützt. Für jene, die sich den Schwierigkeiten stellen, die Charakter zeigen und nicht aufgeben, sind die Aussichten oft besser.
N: Das stimmt zwar, die Obdachlosen sind aber öfters psychologisch stark schockiert. Zudem müssen sie versuchen, in einer ungewohnten und meist feindlichen Situation zu überleben. Sie fühlen sich machtlos angesichts der Aggressivität der Umgebung.
Sie erwähnen die inneren Lebenskräfte. Ich wäre froh, wenn die Obdachlosen solche hätten. Jedes Jahr hilft Nochlezhka über 10’000 Personen. Unsere juristischen Dienste erhalten jährlich mehr als 2’000 neue Anfragen.
Das bedeutet, dass es enorm viele Leute gibt, deren Leben zerstört ist und die am Ende ihrer Kräfte sind.
Der Sport als Rettung?
WM: Leiden die Kinder in den Waisenhäusern unter derselben Situation?
N: Ja. Beim Erreichen ihrer Volljährigkeit (18 Jahre) landen jedes Jahr tausende Waise auf der Strasse. Der Grund: Entweder erhalten sie vom Staat die ihnen zustehende Unterkunft nicht oder sie werden von Schwindlern betrogen.
Manchmal verkaufen sie selbst ihre Wohnung, ohne sich der Gefahren einer solchen Handlung bewusst zu sein.
WM: Heisst das, dass diese Kinder überhaupt nicht sozialisiert sind? Sie sind also nicht gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft. Sie haben offensichtlich niemanden, der sie von schlechten Einflüssen, Drogen, Diebstahl und Kriminalität bewahrt. Ihr Schicksal ist besiegelt. Eine Möglichkeit wäre die Adoption. Man muss davon sprechen, dafür Propaganda machen.
Ja, aber das heutige Adoptionsverfahren ist sehr kompliziert und bürokratisch. Wenn die Kinder die Alterslimite für eine Adoption überschritten haben, könnte der Sport die Rettung sein, weil die Leidenschaft und der Schwung starke und kämpferische Leute hervorbringt.
N: Wie können unsere Bürger dazu gebracht werden, jemandem zu helfen, dem Unglück zugestossen ist?
WM: Mitgefühl entwickelt man vor allem in der Familier oder auch in der Kirche. Man kann andern helfen, wenn man stark und selbstsicher ist. Vor 6 Monaten haben wir mit meiner Agentur „M16-Immobilien“ Kinder und Kriegsveteranen mit Sommercamps für Kinder und Veteranen, Köchinnen, Waschmaschinen und Aufenthalten in Sanatorien geholfen.
Und dies ist nur der Anfang.
Alle reichen Leute helfen jemandem
N: Denken Sie, dass die karitativen Aktionen prominenter Persönlichkeiten publik gemacht werden müssen?
WM: Alle reichen Leute helfen jemandem, jeder auf seine Art: die einen gründen eine Stiftung, andere sprechen nicht davon. Sie wollen so den Eindruck vermeiden, damit prahlen zu wollen.
N: Welche Wichtigkeit hat im Fussball der kämpferische Geist? Wie entsteht er?
WM: Voraussetzungen sind hauptsächlich das Vertrauen in sich, auf seine eigenen Stärken. Sonst fehlt der notwendige Siegeswillen. Du must siegen wollen und alles dafür geben, 100%. Das ist das Pfand für den Sieg.
Dazu gehört das Training, die Sportlerdiät, die Kenntnisse über die Gegnermannschaft. All das braucht Wochen, Monate, manchmal ganze Jahre.
Ja, und der Torhüter muss mit allen Spielern seiner Equipe eng verbunden sein, sie müssen ihm absolut vertrauen können. Wir bilden eine Equipe, eine Einheit.