Interview mit Sergueï Matskewisch

Am 30. Mai 2014 empfängt Herr Sergei Matskewisch, Vorsteher des Komitees für Sozialpolitik von Sankt-Petersburg, Nochlezhka Suisse Solidaire (NSS), um verschiedene Probleme betreffend der russischen Sans-Papiers in der Stadt  zu besprechen.
Sergei Matskewisch ist ein umgänglicher Mann, sympathisch und energiegeladen.  Er hinterlässt den Eindruck, dass ihm die Problematik der Obdachlosen Sorgen bereitet. Gleichzeitig tönt er zwischen den Zeilen aber an, dass seine Entscheidungsbefugnis stark eingeschränkt ist.
Das Treffen zeigt vor allem, dass zwischen der Theorie der Verwaltung und der Realität  auf der Strasse ein tiefer Graben besteht. Und deshalb gleicht das tägliche Leben der russischen Sans-Papiers gestern wie heute einem Martyrium.

In seinem langen, engen Büro, wo es drei Personen nur schwer aushalten, beantwortet Sergei Matskewisch unsere Fragen. Eine Änderung, die keine ist

 NSS : Im März 2014 hat das Komitee für Sozialpolitik beschlossen, die Zahl der offiziell verlangten Papiere, die für den Zugang zu einem Registrierungszentrum in Sankt-Petersburg nötig sind, zu verringern. Wo stehen wir heute ?

Sergei Matskewisch (SM): Es geht nicht darum, die Zahl der Papiere zu verringern, sondern darum, das Vorgehen zu ändern. Heute fordert man von einer Person, die ins Aufnahmezentrum kommen will, den internen Pass sowie ein Dokument, welches die Obdachlosigkeit bestätigt. Die andern Papiere wie zum Beispiel die medizinischen Belege wird diese Person während des Aufenthaltes im Zentrum ergänzen.

NSS : Wurde diese Erleichterung in Kraft gesetzt?

SM : In der Tat handelt es sich um eine geringfügige Änderung des Ablaufes innerhalb der Struktur, die Anforderungen bleiben an sich bestehen.
Die Neuigkeit besteht darin, dass man für den obdachlosen Sans-Papiers einen Paten ernennt, welcher hilft, die notwendigen Dokumente zusammenzutragen.

NSS : Zur Zeit kann ein Obdachloser maximal drei Monate in einem Aufnahmezentrum bleiben, nicht wahr?

SM : Es gibt keine Standard-Dauer, für jede Sans-Papiers-Kategorie gilt eine eigene Dauer: den Alten, den Behinderten, die Person von ausserhalb von Sankt-Petersburg, usw.

NSS : Aber sind drei Monate das Maximum?

SM : Das Maximum beträgt sechs Monate. Es kann eventuell verlängert werden, falls sich dies rechtfertigt.
Obdachlose, die arbeiten, bleiben einen Monat im Zentrum.
Für Rentner ist dies drei Monate, die Zeit, um alle Formulare auszufüllen und die Person einem Altersheim zuzuweisen. Selbstverständlich bleibt die Person im Aufnahmezentrum, falls der Transfer nicht möglich ist.
Wohnt der Obdachlose in einer Nachtunterkunft, muss er einen Vertrag unterschreiben. Dieser regelt die Verpflichtungen des Sozialdienstes und des Obdachlosen. Zum Beispiel werden die medizinischen Untersuchungen gemacht, seine Papiere gesucht, usw.
Ist der Obdachlose nicht von Sankt-Petersburg und hat die Möglichkeit zu arbeiten, kann er einen Monat im Zentrum bleiben. Das Ziel ist, dass er die Stadt wieder verlässt und in die Region zurückkehrt, wo er registriert ist.
Für jene, die arbeiten können, aber keinen Pass, etc. haben, beträgt der Aufenthalt zwei Monate.
Der Vertrag ist nicht starr. Er existiert hauptsächlich, um den Obdachlosen dazu zu motivieren, selbst einen Ausweg aus seiner Situation zu finden. Es soll nicht einfach gegeben werden ohne Gegenleistung.

Zwischen Wunsch und Realität

 NSS : Wie viele Aufnahmezentren gibt es?

SM : Insgesamt gibt es vierzehn Zentren, dreizehn davon sind in Betrieb und bieten Platz für 279 Obdachlose.
Für 18 Bezirke haben wir 14 Zentren. In den 4 Bezirken ohne Zentren wurden Zelte eingerichtet. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit den Zelten im Winter wurde entschieden, davon gewisse das ganze Jahr offen zu halten.
Diese Zelte werden durch Nichtregierungs-Organisationen betrieben und von der Stadt subventioniert. In der Tat ist dies ein Projekt. Konkret existiert zur Zeit ein einziges Zelt.

NSS : Effektiv. Es ist der Ort, wo der Bus von Nochlezhka jede Nacht Mahlzeiten verteilt. An dieser Stelle gibt es nebst dem Zelt auch ein leer stehendes Haus, das von sechzig Obdachlosen benützt wird. Das Problem dabei ist, dass es kein Wasser gibt. Weshalb?

SM : Dies ist das Problem der grossen Städte. Sankt-Petersburg ist eine Riesenagglomeration und es ist sehr schwierig, für die Obdachlosen Orte mit geeigneter Infrastruktur zu finden.

NSS : Bleiben wir bei den Zelten. Weshalb hat die Stadt im letzten Winter (2013-2014) keines aufgestellt, obwohl man wusste, dass im Winter 2012-2013 1’042 Personen erfroren? Eine sehr grosse Zahl.

SM : Im letzten Winter gab es sieben Zelte in Sankt-Petersburg, davon zwei von Nichtregierungs-Organisationen. Die andern standen unter der Verwaltung der Stadt. Die beiden Zelte der Bezirke Kiroski und Newski haben jedoch nicht gut funktioniert. Die Angestellten waren nur tagsüber anwesend.

NSS : Aber genau in der Nacht sind diese Unterkünfte unabdingbar.

SM : Ja. Zudem wussten die Obdachlosen wegen der total ungenügenden Information nichts von diesen fünf Zelten.

NSS : Zusammenfassend heisst das, dass von den sieben Zelten, die durch die Stadt betrieben wurden, nur zwei wirklich nützlich waren, jedoch nur tagsüber.

SM : Ja, das ist so.

 

 

 

Eine Dusche für 60’000 Personen

 

NSS : Wenn wir schon beim fehlenden Wasser sind, können wir noch erwähnen, dass für 60’000 Personen nur eine einzige Dusche existiert, jene bei Nochlezhka. Wie weit ist das Projekt fortgeschritten, mehr davon zu installieren.

 

SM : Es ist teuer, Duschen zu installieren. Zudem stellt sich das Problem der Infrastruktur wie Wasser und Elektrizität. Und der Wasseranschluss wird ebenfallls je länger je teurer.

 

NSS : Man macht also nichts.

 

SM : Wir haben versucht, mit den öffentlichen Bädern zusammenzuarbeiten im Sinne, dass sie die Obdachlosen an einem bestimmten Tag empfangen könnten. Erfolglos.

Wir haben ebenfalls Nochlezhka vorgeschlagen, ein Projekt zu präsentieren.

 

NSS : Nochlezhka arbeitet an einem Vorschlag. Sie werden ihn zuerst dem Hygienedienst und anschliessend dem Sozialdienst vorstellen.

NSS hat ebenfalls mit dem Abgeordneten Milonow darüber gesprochen. Er ist bereit, jede diesbezügliche Initiative zu unterstützen.

 

SM : Dies ist eine hervorragende Neuigkeit. Wenn Herr Milonow Nochlezhka unterstützen will, muss er die Gelegenheit benützen. Ich danke NSS sehr, dass sie die Kontakte zwischen unseren Diensten erleichtern, Herrn Milonow und Nochlezhka.

Es ist jetzt wichtig, dass man das Budget für ein solches Projekt erhält, damit wir dieses vorantreiben zu können.

Wichtig ist auch, dass ein Pilotprojekt entwickelt werden kann.

 

NSS : Ich hoffe, dass bei unserer nächsten Reise die Duschen Realität sind.

 

SM : Ja, ich hoffe auch, damit wir dort eine Dusche nehmen können.

 

NSS : Einverstanden, die Wette gilt.

 

 

Das Entscheidungs-Ping-Pong

 

NSS : Trotz dieser positiven Resultate stellen wir fest,  dass das zum Spital Botkin gehörende Pflegezentrum, welches auf ansteckende Krankheiten spezialisiert ist, auf Ende 2014 geschlossen wird.

 

SM : Ja, das stimmt, sein Umzug ist vorgesehen. Genauer gesagt, werden gewisse Strukturen   davon verlegt. Die städtischen Sozialdienste befürchten deshalb, dass man von dieser Reorganisation profitiert, um die Abteilung für die Obdachlosen zu opfern.

Das Gesundheitskomitee wird definitiv darüber entscheiden.

In diesem spezifischen Fall ist das Komitee für Sozialpolitik machtlos. Es macht jedoch seinen ganzen Einfluss geltend, damit ein Entscheid gefällt wird, der für die Obdachlosen positiv ist.

 

NSS : Wissen Sie, wann dieser Entscheid gefällt wird?

 

SM : Schwer zu sagen, wann endgültige darüber entschieden wird. Das Thema wird seit zwei Jahren diskutiert. Aber es kann von einem Tag auf den andern geschehen.

 

NSS : Ihr Departement hat offensichtlich sehr wenig Macht.

 

SM : Es ist nicht so, dass wir nichts zu sagen haben, dieses Thema gehört eben nicht in unser Kompetenzgebiet.

 

NSS : Aber was wird geschehen, wenn dieser Ort schliesst?

 

SM : Man versucht alles, damit dies nicht der Fall sein wird. Das Spital liegt jedoch in der Verantwortung des Gesundheitskomitees.

 

NSS : Gibt es keine übergeordnete Instanz, welche die Entscheidung fällen könnte?

 

SM : Wir unterstehen einem Vize-Gouverneur, Frau Kazanskaya Olga, sie hat das letzte Wort.

 

Ein Gesetz ohne jeglichen Einfluss

 

NSS : Trotz eines Gesetzes aus dem Jahr 2011,  gemäss dem «Alle Bürger der Russischen Föderation, mit oder ohne Propiska und sogar ohne Pass, Anrecht auf eine Krankenversicherungs-Police hat», ist dessen Umsetzung noch kaum feststellbar. Was macht das Komitee für Sozialpolitik, damit das Gesetz tatsächlich angewendet wird?

 

SM : Theoretisch existiert das Problem gar nicht, weil alle Obdachlosen eine Krankenversicherungs-Police bekommen können.

Es stimmt jedoch, dass die Obdachlosen sehr wenig Chance haben, Pflege zu erhalten, dies trotz des Gesetzes.

Der Konflikt schwelt zwischen dem Gesundheitsministerium und dem Fond der Krankenversicherer. Ja, dies ist ein politisches Problem und es ist weit von einer Lösung entfernt. Es muss vor allem auf Bundesebene angegangen werden.

Wenn sich der Obdachlose beim Registrierungs-Zentrum meldet und sich dort einschreibt,  erhält er automatisch eine Krankenversicherungs-Police. Dies gilt jedoch nur für jene Obdachlosen, die in Sankt-Petersburg geboren wurden. Und um sich anmelden zu können, muss man selbstverständlich seine Herkunft belegen können.

Das Problem ist, dass die Mehrheit der 60’000 Obdachlosen von ausserhalb der Stadt stammen.

Eine externe Person mit einem internen Pass kann sich jedoch anmelden.

 

NSS : Wie informieren Sie die petersburger Obdachlosen, dass sie sich zum Registrierungs-Zentrum begeben müssen?

 

SM : All jene, die Ausweispapiere besitzen, haben kein Problem, in ein Spital zu gehen. Dies betrifft alle Bürger. Wenn ich meinen internen Pass verliere, muss ich zuerst einen neuen beschaffen, bevor ich in ein Spital eintreten kann.

 

NSS : Wenn man ihren Ausführungen folgt, wird einem bewusst, dass sämtliche Probleme seit jeher durch das  Registrierungs-System verursacht werden. Wieso wird dies nicht geändert?

 

SM : Ja, Sie haben Recht ; man sollte das System des internen Passes ändern. Die Form des Passes wird übrigens zur Zeit geändert, der Umschlag wird plastifiziert.

 

NSS : Ja, aber dies ist eine rein kosmetische Änderung.

 

SM : Ja, ja.

 

Die Lösung Milonow

 

NSS : Was denken Sie vom Vorschlag der Herren Witaly Milonow, Andrei Beschtanschko und Ciril Schtitow, die Obdachlosen in Arbeitslager zu senden?

 

SM : Ich habe  von diesem Vorschlag gehört. Ich bin sehr skeptisch. Erstens ist es unnütz, Massenverschiebungen zu organisieren; es ist einfach, 10 Kilometer ausserhalb von Sankt-Petersburg verlassene Häuser und Arbeit zu finden.

Wenn jemand seinen Tagesablauf ändern will, kann er dies tun. Zweitens muss man die Besonderheiten unserer Stadt berücksichtigen. Alle wollen hieher kommen, hier Arbeit finden. Niemand will diese Grossstadt verlassen, um auf den Feldern zu arbeiten.

Die Obdachlosen zum Verlassen der Stadt zu bewegen, ohne sie dazu zu zwingen, ist unmöglich. Wir können diese Art von Vorschlägen aber nicht anwenden, weil wir ein zivilisiertes Land sind.

 

NSS : Aber wäre es nicht eine Alternative, in einem Lager zu sein und dort Pflege zu erhalten, statt auf der Strasse überleben zu müssen?

 

SM : Die Idee als solche ist nicht schlecht. Aber sie ist utopisch. Sie ist sehr wage bezüglich ihrer Anwendung. Was passiert mit den Nachtbussen von Nochlezhka, wer kommt zu ihnen? Alkoholiker, Drogensüchtige. Man muss die reelle Situation verstehen. Wenn sich jemand aus seiner Misere befreien will, kommt er heraus. Es liegt am Unterprivilegierten, in den sozialen Lift zu steigen oder nicht.

 

NSS : Man muss ihn aber in den Lift steigen lassen, insbesonders dann, wenn er keine Ausweispapiere besitzt.

 

SM : Der Mensch unterscheidet sich von andern Arten, weil er vernünftig ist, weil er überlegt. Er muss den Willen haben, sich aufzurappeln. Man sieht mit dem Nachtbus: die Leute gewöhnen sich an die Unterstützung. Dies erlaubt es ihnen nicht, sich selbst zu helfen.

 

NSS : Man kann nicht sagen, dass die Einstellung des Nachtbuses den Leuten helfen würde, leichter aus der Misere zu kommen.

 

SM : Dies wollte ich nicht sagen. Man muss den Obdachlosen helfen, aus ihrer Situation herauszukommen. Man muss sie stimulieren.