27-05-16 АБВ

Die Bilder von Alexander Galperin illustrieren ein Projekt, genannt ABC; ein spezielles ABC, das, den Buchstaben des kyrillischen Alphabetes folgend, die schlimmen Bedingungen der obdachlosen Sans-Papiers aufzeigen.
Die starken Bilder des Fotografen Alexander Galperin schildern eine traurige, parallele, notleidende Welt, sichtbar für jeden einzelnen, obwohl niemand der Tatsache in die Augen schauen will.
Das Projekt wurde von Igor Antonov, dem Fahrer des Nachbuses, und dem Fotografen Alexander Galperin vorgeschlagen und realisiert.

А Б В Г Д Е Ё Ж З И Й К Л М Н О

 

П Р С Т У Ф Х Ц Ч Ш Щ Ъ Ы Ь Э Ю Я


АРИФМЕТИКА
ARITHMETIK

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Division:
Andrew ist nahe des Fensterrandes eines armseligen Hauses im Stadtzentrum eingeschlafen. Sein Leben wurde in ein „Vorher“ und ein „Nachher“ geteilt.
Vorher teilte er eine Gemeinschaftswohnung mit frechen Mit-Mietern bis zu jenem Tag, an dem sie ihn nicht mehr akzeptierten.

Addition:
Alexander lebt seit 10 Jahren auf der Strasse. Sein Lebensrhytmus wird durch „gute Leute“ geprägt, die ihm einen guten Job, eine Unterkunft und die Lösung all seiner administrativen Probleme versprechen. Alexander arbeitet täglich ohne Unterbruch 12 bis 15 Stunden, aber er sieht nie Geld für seine Arbeit.
Alexander akzeptiert trotzdem noch und noch, ein Sklave zu sein, weil er nicht auf der Strasse krepieren will.

Multiplikation:
Vitali überlebte letztes Jahr in einem verlassenen Haus. Er verbringt die meiste Zeit damit, Altmetalle einzusammeln, um sie zu verkaufen. Seine Schuhe sind undicht und diese ewige Feuchtigkeit verhindert die Heilung seiner Fusssohlengeschwüre.
Vitali „multipliziert“ die Krankheiten: chronische Bronchitis infolge des Klimas, die Leber durch gepanschten Alkohol zerfressen, der Magen durch die schlechte Ernährung zerstört.

Subtraktion:
Sergei zerstritt sich mit seinen Eltern, sie stossen ihn aus. Sergei verliert seine Propiska und landet auf der Strasse. Ohne Registrierung wird er zum Obdachlosen. Er wird im Spital nicht akzeptiert und kann sich für keine Arbeit bewerben.
Schliesslich bleibt ihm nur eine Lösung: nicht krepieren.

БЕДНОСТЬ
ARMUT

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Einige Obdachlose verdienen mit dem Einsammeln von wiederverwertbarem Altmaterial (Papier, Metalle, Glas), Betteln und kleinem Strassenhandel pro Tag 250-300 Rubel, 3-4 1/2 Franken.
Ihr Monatseinkommen erreicht das Existenzminimum, das in Russland 10’019.40 Rubel (152 Franken) beträgt, natürlich nicht (offizielle Zahlen der Verwaltung von St. Petersburg für das 3. Trimester 2015).

Die Männer und Frauen, die am Nachtbus essen kommen, tragen mehr als abgenutzte, aber saubere Kleider. Diese Bürger haben eine Propiska und eine Unterkunft, ihr sehr tiefes Einkommen erlaubt es aber nicht, richtige Nahrung zu kaufen. Sie haben nur das strikte Minimum für die öffentlichen Dienste, medizinische Versorgung und öffentlichen Verkehr.
Diese Leute leben in einem prekären Balancezustand zwischen Armut und der Strasse. Falls sie krank werden, ihre Arbeit oder gar ihre Unterkunft verlieren, werden sie ohne jeden Zweifel zu Obdachlosen ohne Ausweise.

ВОДА
WASSER

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Um auf der Strasse zu überleben, bedeutet immerwährenden Kampf. Häusliche Gewohnheiten, die uns unbedeutend erscheinen, sind für Obdachlose wahrhafte Leidenswege.
Eine Dusche zu nehmen oder sich rasieren zum Beispiel. Für uns, die wir in Wohnungen mit allem Komfort leben, ist es ein leichtes, den Wasserhahn der Badewanne aufzudrehen oder den elektrischen Rasierapparat einzustecken.
Damit sich Obdachlose diese elementaren Bedürfnisse erfüllen können, müssen sie oft lange Strecken reisen, manchmal quer durch die Stadt. Woher zudem das Geld und die nötigen Ausweise für öffentliche Duschanstalten nehmen oder wo Zugang zu Trinkwasser finden, um den Durst zu stillen, zu kochen oder sich zu waschen?
Für uns ist dies einfach. Versuchen Sie aber in St. Petersburg, Wasser guter Qualität zu einem tragbaren Preis zu finden. Klar gibt es die Toiletten in Kaffees, sofern sie nicht mit Schlössern verriegelt sind. Oder haben Obdachlose die Mittel, Wasser in einem Laden zu kaufen?
Der Obdachlose trinkt deshalb verschmutztes Wasser, sogar ungekocht, was schwere Darmprobleme verursacht.

Während des Sommers ist die Verfügbarkeit von Trinkwasser speziell wichtig, da infolge der hohen Temperaturen Dehydratierung des Körpers droht.
Einer der wenigen existierenden Trinkwasserstellen ist die Wassersäule in der Nähe des Bahnhofs Ligovo in den Bezirken Frunze und Nevskiy, eingeklemmt zwischen den Geleisen und einer illegalen Kehrrichtablage.

ГОРОД
STADT

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In der Stadt, ein verlassenes Gebäude, wo ich sechs lange Winter verbrachte. Dieser Hund, der mir in der Kälte warm gab.
Der Unhold, der die Hunde tötete.
Eine Frau hat mir einen warmen Schlafsack gegeben, Studenten mir Essen gebracht.
Ein Schwein hat mich ausgeraubt und dabei gesagt: „Gott gebietet, zu teilen“.
Dies war mein bevorzugter Platz beim Theater. Da wohnte ich, ich liebte ihn, aber ich verliess ihn, betrogen. Der Architekt Montferrand hat die wichtigsten Symbole der Stadt gebaut.

ДЕРЕВНЯ
DORF

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Jene, deren Leben ein Misserfolg ist, glauben an ihr Dorf, wo sie geboren wurden, in der Hoffnung, gerettet zu werden. Ich bin in der Gegend von Leningrad geboren, wo ich auch meine Kindheit und meine Jugend verbrachte.
Unsere Familie hatte Güter, Kühe, Stiere und andere Tiere.Meine Mutter arbeitete auf dem Hof, sie stand morgens um 4 Uhr, manchmal um 5 Uhr auf. Sie hat im Garten ihre gesamte Freizeit verbracht, auch die Wochenende.
Auf dem Land leben bedeutet harte Arbeit: Gemüse pflanzen, sich um das Vieh kümmern. Andere haben einen Beruf, die Arbeit ist weniger schwierig, man hat es besser.
Wenn ich jemanden sagen höre: „Es ist Zeit, dass ich ins Dorf zurückzukehre, dort geht alles gut“, möchte ich ihm die Frage stellen, was er denn in seinem Dorf machen wird.

ЕДА
ESSEN

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Kaffees, Restaurants, Läden werfen ihre Lebensmittel nach dem Verfalldatum weg. Meistens findet man dort Konserven, Milch, Fisch, Fleisch, Brot.
Diese „verfallene“ Nahrung ist das Essen der Obdachlosen.
Einer der „Helden“ dieses ABCs, Wyascheslaw Rasner, verrät uns, dass er sich in den vergangenen Jahren nur von Lebensmitteln mit abgelaufenem Verfalldatum ernährte. „Es genügt, den Zeitpunkt zu kennen, an dem diese Produkte weggeworfen werden“, sagt er.
Einer seiner Leidensgenossen erklärt uns, dass Händler auf dem Markt ihm für seine Hilfe beim Ausladen „nichtkonforme“ Produkte anbieten: Gemüse, Pouletfleisch, Brot.
Wyascheslaw Rasner fügt bei: „Jene, die einen geschützten Ort gefunden haben, kochen ihr Essen auf geheizten Ziegeln. Oft isst man auf der Strasse aber rohe, kalte Lebensmittel. Für zubereitetes Essen gibt es vier öffentliche Zentren, man muss jedoch bezahlen. Sonst gibt es noch den Nachtbus von Nochlezhka.
Es gibt auch religiöse Organisationen, allen voran die Heilsarmee, aber auch den Malteser-Orden. Es kommt auch vor, dass Einwohner der Stadt uns etwas geben. Junge wie Alte. Dies erinnert mich an die Frühstücke, die mir meine Schüler brachten, als ich noch Lehrer war.
Da ist aber auch die grosszügige und mitfühlende Frau, welche im benachbarten Häuserblock wohnt und Tee und Kaffee verteilt.
Solche Taten bleiben für immer in meinem Gedächtnis haften. Sie helfen, etwas Vertrauen in die Menschheit zu bewahren“, sagt Wyascheslaw Rasner abschliessend.

ЖИВОТНОЕ
TIER

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Ein Hund namens Ginger, der aber auch hinhört, wenn man ihn Kebab nennt. Er wohnt bei den Obdachlosen. Wo ist er geboren? Man weiss es nicht.
Laut seinem Meister Alexei ist er einmal gekommen und dann geblieben.
Er liebt die Menschen, vor allem jene, die ihm Pouletfleisch geben. Er liebt aber auch das Fleisch und die Teigwaren mit Essiggurken, welche die freiwilligen Mitarbeiter des Nachbuses bringen. Sein Aufenthaltsort ist dort, wo die Obdachlosen essen.
Bei jedem Halt des Nachtbuses vertreibt Ginger knurrend die andern Hunde. Die Teigwaren mit Essiggurken sind für ihn.
Manchmal gibt Ginger seinem Meister warm, wenn er nirgends Unterschlupf findet.

ЗИМА
DER WINTER

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Die Obdachlosen sehen dem Winter immer noch angsterfüllt entgegen, selbst wenn er etwas milder ist wie im 2015-2016 (Durchschnittstemperatur minus 15 Grad).
Der Winter ist auf jeden Fall eine schreckliche Prüfung für die Obdachlosen.
Gemäss offiziellen Angaben sind im letzten Winter 166 Obdachlose erfroren. Nochlezhka schätzt die Zahl der Opfer bedeutend höher. Dabei dürfen auch die abgefrorenen Glieder und die Atemprobleme nicht vergessen werden.
Gemäss der petersburger Nichtregierungs-Organisation beträgt die durchschnittliche Sterbeziffer der Obdachlosen bei ungefähr 4’000 Personen pro Jahr.
Es werden ihnen nur wenige Orte angeboten, wo sie sich vor der beissenden Kälte schützen können. An lediglich 4 Orten empfangen Nochlezhka und der Malteser-Orden die Obdachlosen, ohne von ihnen gültige Ausweise zu verlangen.
Einwohner und Gemeinschaften wie „Persimmon“ verteilen warme Kleider oder geben sie im „Spasiba“-Laden (Danke) ab oder Einzelpersonen hängen in einem Park ihre gebrauchten Schuhe an einem Gitter auf.
Die Hilfegesuche nehmen laufend zu. 2015 haben sich 8’717 Personen an Nochlezhka gewandt, das sind 40% mehr als im Jahr zuvor.

ИНОСТРАНЦЫ
DIE AUSLÄNDER

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Seraphim Kim ist ein Phantom.
Er arbeitet und lebt mit seiner Mutter in einer Mietwohnung; mit einem Wort gesagt, unterscheidet er sich nicht viel von seinen Mitbürgern. Das Paradoxe daran ist, dass Seraphim keinen Ausweis (Propiska) besitzt, der seine Existenz beweist.
Die Grossmutter von Seraphim wurde im Rahmen massiver Deportationen von Russen koreanischer Abstammung nach Uzbekistan umgesiedelt. Seraphins Mutter ist in Yangiyer geboren, wo man ihr den Vornamen Lyudmila gab.
Seraphin selbst wurde 1994 in St. Petersburg geboren. Lyudmila scheiterte aber beim Antrag auf die russische Nationalität für ihn.
Lyudmila besass die sowjetische Staatsbürgerschaft. 1991 hat sie diesen Status jedoch verloren. Für die Russen ist Lyudmila usbekisch, die usbekischen Behörden anerkennen sie aber nicht. Selbst wenn Seraphin in Russland geboren wurde, ist seine Geburt inexistent, da seine Mutter administratif nicht existiert.
Seraphin existiert also nicht.
Ein Teufelskreis. Seraphins Mutter versucht seit vielen Jahren, aus diesem auszubrechen, indem sie ihren Sohn legalisieren lassen will. Der Einwanderungs-Dienst hat ihr vorgeschlagen, auf ihre mütterlichen Rechte zugunsten ihrer Schwester zu verzichten, welche die russische Nationalität besitzt.
Lyudmila hat mit den Beamten der sozialen Sicherheit darüber gesprochen. Diese waren von diesem Vorschlag äusserst erstaunt und haben gesagt: „Aber wie könnten wir dies denn machen? Sie selbst existieren ja weniger als Rauch“.
Eine der letzten Hoffnung wäre, dass sich Seraphin selbst zum Einwanderungs-Dienst begibt mit Zeugenbestätigungen, dass er existiert.
Lyudmila sieht vor, dies in nächster Zukunft zu tun.
In der Zwischenzeit ziehen dunkle Wolken über dem jungen Mann auf: ohne legale Existenz riskiert er, seine Arbeit zu verlieren.

КОНСТИТУЦИЯ
VERFASSUNG

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Ihr gegenüber sind die Obdachlosen ohne Ausweise praktisch machtlos. Nehmen Sie beispielsweise das Recht auf Unterkunft.
Um dieses zu erhalten, muss der Obdachlose ohne Ausweise seinen Aufenthaltsort registrieren lassen. Wie denn, wenn man ja gar keinen hat? Absurd.
Oder zum Beispiel das Recht auf Arbeit. Diskriminierung bei der Anstellung ist verboten, ohne Ausweise ist es jedoch unmöglich, angestellt zu werden.
Egal, ob der Arbeitgeber privat oder öffentlich ist wie z.B. Metropolitan oder Gorelectrotrans, sie alle respektieren die Verfassung nicht. Das Stimmrecht oder das Recht auf medizinische Versorgung für alle, so sagt es die Verfassung. Und ob.
Viele Obdachlose verfügen über keinen internen Pass. Als Konsequenz davon verweigern ihnen die meisten öffentlichen Spitäler der Stadt die Aufnahme, von den Privatkliniken gar nicht zu reden.
Wenn der Sans-Papier schwer erkrankt, z.B. an Krebs, ist er ohne Zugang zu Pflege auf mehr oder weniger kurze Zeit zum Tod verurteilt.
Die Regelung mit dem internen Pass ist ein Haupthindernis zur Verwirklichung der verfassungsmässigen Rechte wie die Propiska und ein Dach über dem Kopf.
PS: Wir verstehen die Gründe der Geseetzgeber nicht, weshalb auf den 1. Januar 2015 die staatlichen Kosten für einen Pass auf 1’500 Rubel (22.50 Franken) erhöht wurde.
Für die Obdachlosen ist dieser Betrag viel Geld.
Die finanziellen Hindernisse und die Tatsache, mit einer Vielzahl von Funktionären, Reglementen und Formularen konfrontiert zu werden, führt dazu, dass viele Obdachlose noch mit dem alten (ungültigen) Pass der ehemaligen UdSSR leben.
Dies gilt besonders für jene, die im Zeipunkt des Inkrafttretens des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes am 6. Februar 1992 keinerlei Registrierung besassen.

ЛЮБОВЬ
LIEBE

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Irina Koldina et Alexei Mikov sind sich bei Nochlezhka begegnet.
Irina wohnte seit vier Monaten dort, sie wartete darauf, eine Unterkunft zu finden.
Alex kommt aus Tscheliabinsk, einer Stadt im Westen des Urals.
Alex hat in Tscheliabinsk seine Wohnung verkauft, um die von seiner Mutter geerbten Schulden zurückzubezahlen. Nach vielen Höhen und Tiefen ist er in St. Petersburg als Obdachloser ohne Ausweis angekommen. Er findet bei Nochlezhka Unterkunft. Im vergangenen April finden sie in einer Gemeinschaftswohnung ein Zimmer, das sie mieten und wo sie glücklich wohnen. Am Einweihungstag haben sie uns ihre Romanze erzählt.
Alexei: Seit langem habe ich eine Frau gesucht. Bei Nochlezhka bin ich sofort auf Irina aufmerksam geworden. Ich getraute mich aber nicht, mich ihr anzunähern. Ich bewunderte sie aus Distanz, aus den Augenwinkeln.
Irina ist eine ruhige Frau, schön. Sie liebt es, sich um andere zu kümmern, Alkohol sagt ihr nichts. Eines schönen Tages habe ich sie gebeten, mir bei einer Haushaltsverrichtung zu helfen. Als Dank wollte ich sie auf die Backe küssen, habe aber ihre Lippen vorgefunden.
Und so sind wir also zusammen.
Irina: Alex ist ein sehr fürsorglicher Mann. Er ist ruhig und abstinent. Für mich ist dies ein fundamentales Element, da ich vorher trank, was ich konnte. Alex liebt mein Kind, er hat ihm sogar ins Waisenheim telefoniert und mir am 8. März (Tag der Frau) Blumen geschenkt.
Die Heirat ist für später. Ich habe bereits zwei Erfahrungen, die schiefgelaufen sind. Es stimmt, Alex ist sehr ungeduldig.

МЕДИЦИНА
MEDIZIN

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In St. Petersburg hat das Botkin-Spital die Gepflogenheit, sich der Obdachlosen ohne Ausweis anzunhemen. Es ist das einzige Pflegezentrum der Stadt, welches sie ohne gültige Ausweise akzeptiert. Andernorts ist der Zugang zu medizinischer Hilfe beinahe unmöglich.
2015 kamen täglich um die sechzig Personen ins Botkin; seit Anfang dieses Jahres drängen sich mehr als 100 Obdachlose ohne Ausweis beim Eingang.
Obdachlose haben dieselben Krankheiten wie jedermann, dazu kommen aber chronische Leiden, verursacht durch das Leben auf der Strasse, gepanschten Alkohol, schlechtes Essen und verunreinigtes Wasser.
Laut den Ärzten des Botkin betreffen die bei dieser Bevölkerungskategorie vorkommenden Krankheiten hauptsächlich die Haut, die Verdauung, die Leber, die Psyche.
Trotz all der Pflege und der angemessenen Verpflegung: wenn die Behandlungen im Spital zu Ende sind, befinden sich die Obdachlosen wieder auf der Strasse und der Teufelskreis beginnt von vorne.
Die Ärzte berichten uns von noch schlimmeren Fällen wie z.B. von jenem Mann, der mit einem völlig verbrannten Gesicht kam. Während er auf der Treppe eines Gebäudes schlief, kam eine Frau mit einer Pfanne aus ihrer Wohnung und hat ihn mit kochendem Wasser verbrüht.
Oder die Obdachlosen werden aus nächster Nähe erschossen.

НОЧНОЙ АВТОБУС
NACHTBUS

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Der Nachtbus ist ein mobiler Ort der sozialen Sicherheit, die von Nochlezhka allen zukommt, die sie benötigen. Es ist dies das älteste Projekt der Nichtregierungs-Organisation.
Diese gemeinnützige Turnee ist ein Kennzeichen der Stadt geworden, gleich wie die Hebebrücken und die immerwährenden Tage im Sommer.
Seit 13 Jahren verteilt ein Team von Freiwilligen an fünf Tagen pro Woche an vier Orten der petersburger Stadtperipherie aus einem Minibus warme Mahlzeiten an Obdachlose, Arme, Arbeitslose, an alle, die Hunger leiden.
Jedermann, der sich an der Haltestelle des Buses befindet, erhält eine Schale warmer Suppe, einige Stücke Brot, eine Tasse stark gesüssten Tee und Gebäck oder süsse Crêpes.
Das Brot ist von der Bäckerei der Heiligen Dreifaltigkeit Alexander Nevsky Lavra gespendet. Die stets konsistente Supppe wird in Kaffees und Restaurants der Stadt zubereitet.
Zusätzlich zur Verpflegung können die Hilfsbedürftigen auf saubere Kleider, ärztliche Nothilfe und Beratung durch Sozialarbeiter zählen.
Seit Beginn dieses Jahres 2016 hat der Nachtbus mehr als fünfzigtausend Personen geholfen.

ОБУВЬ
SCHUHE

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Wärend Kleider zu finden für die Obdachlosen keine unlösbare Aufgabe ist, ist es viel schwieriger, Schuhe zu bekommen. Bei der Heilsarmee findet man tatsächlich Kleider, bei Nochlezhka ebenfalls.
Es ist nicht selbstverständlich, dass die vorgeschlagenen Schuhe die richtige Grösse haben. Oder dass sie der Saison entsprechen.
Igor sagt uns dazu: „Um die richtigen Schuhe zu finden, braucht man viel Glück, ja sogar in diesem Fall ist es schwierig. Am besten ist es, Geld auf die Seite zu legen, um sie kaufen zu können. Ich mache dies, indem ich weniger trinke. Die Spitze dabei ist, dass ich früher Schuhmacher war. So weiss ich wenigstens, wie man Schuhe behandeln muss, damit sie möglichst lange halten.
Ich bin Clochard, das heisst aber nicht, dass ich einer Vogelscheuche gleichen muss. Ich bin vor zwanzig Jahren in St. Petersburg angekommen. Drei Dinge haben mich interessiert, das Schiff Aurora, die hellen Sommernächte und die Eremitage. Ich habe mir nie einen Eintritt ins Museum leisten können“.

ПАСПОРТ
PASS

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Das Leben auf der Strasse ohne Ausweis ist Synonym von dauernder Belästigung durch die Poliezi. Sinnlos, von einem normalen Leben ohne Pass zu träumen. Ohne internen Pass sperren die Spitäler und die Unterbringungszentren der Stadt ihre Türen zu.
Eine angemessene Arbeit finden, seine Rechte verteidigen ohne Identitätskarte: unnötig zu insistieren.
Piotr, ein Obdachloser, erzählt: „Im Februar war ich traurig und betrunken. Ich bin im Schnee eingeschlafen. Ein Mann hat mich geschüttelt, mich geweckt und angeschrieen: „Steh auf oder Du stirbst“.
Ich habe mir gesagt, dass so zu leben keinen Sinn macht und bin zum „Haus der Hoffnung auf dem Berg“ gegangen. Das älteste Zentrum in St. Petersburg, das sich der Heilung vom Alkoholismus widmet. “Dort absolviere ich eine Entwöhnungskur und hoffe, anschliessend wieder Identitätspapiere zu erhalten.“

РОДНЫЕ
ABSTAMMUNG

_GAS_7322 Р_родственникиGewisse Leute werden mit der Gabe geboren, für sich eine glänzende Vergangenheit zu erfinden. Vitaly ist einer davon. Vitaly, seine Frisur mit Brillantine fixiert, mit ausdruckstarkem Gesicht, dauernd in Bewegung, ist ein Stammgast des Botjn-Spitals.
Bei seinen Besuchen nimmt Vitaly eine wichtige Haltung ein und mustert das Pflegepersonal mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, so, als käme er aus einer höheren sozialen Schicht. Sogar wenn für ein Stück Brot bettelt, tut er dies mit grossem Stolz.
Hinter seinem Rücken spricht man bösartig von „Vitaly, der Brotbettler“.
Heute ist Vitaly gekommen, um sein schmerzendes Bein zu zeigen und ein Paar trockene Socken zu verlangen. Seine sind nass, sie verdecken zahlreiche Geschwüre.
Vitaly verkündet in die Runde, dass er einen halben Tag marschiert sei, um hieher zu kommen. Er lehnt den Kaffee unter dem Vorwand eines zu hohen Blutdrucks ab. Die Wärme des Ortes und die hastig gegessenen Würste wecken seine Lebhaftigkeit.
„Meine Familie ist berühmt. Mama war Pilotin in der Zivilluftfahrt. Mein Grossvater hat das Fahrzeug erfunden, das die Eisenbahnschienen überprüft. Vielleicht haben sie diese Maschine im Museum gesehen.“ Mit einem Satz springt Vitaly vom Untersuchungstisch und inspiziert mit blossen Füssen einen Stapel Kleider. Überheblich verlangt er vom Arzt „haben Sie nicht eine Hose?“
Alexander Sandomierz, freiwilliger Psychologe bei Nochlezhka sagt dazu:
„Man kann schlichtwegs nicht herausfinden, ob das, was Vitaly erzählt, stimmt oder ob alles nur erfunden ist.
Egal, seine „Familiengeschichte“ erlaubt es ihm, zu überleben und lässt ihn im Glauben, er sei nicht ein Obdachloser wie die andern.“

СКВОТ
HAUSBESETZUNGEN

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Der Dachboden, der Keller, die traditionnellen Wohnorte der Obdachlosen mit etwas Glück. Für die Unglücklichen bleiben zerfallene, verlassene Gebäude.
Diese „Zabroschek“ befinden sich an der Peripherie von St. Petersburg, so wie jener entlang der Eisenbahngeleise, den wir besuchten. Am Eingang des besetzten Hauses steht ein eindrücklicher Abfallberg, dessen Hälfte von Menschen angesammelt wurde.
Auf einer brüchigen Mauer wurde Werbung für eine Entzugsklinik für Alkoholiker und Rauschgiftsüchtige angebracht. Der Boden des ersten Stockes ist eingebrochen; unvorstellbar, hier leben zu können.
Eine wackelige und rissige Treppe führt in den zweiten Stock. Man findet hier „Zimmer“, in denen alte Matratzen auf dem Boden herumliegen.
Im Gang ein armseliger Ofen, zusammengebastelt aus wurmstichigen Brettern. Darüber versucht eine Hose, trocken zu werden. Auch hier Abfälle, soweit das Auge reicht. Absichtlich liegengelassener Abfall, er macht es möglich, wertvolle Gegenstände zu verstecken. Im Falle eines Angriffs dienen sie als Schutz.
Hier gibt es Invalide, Kranke, Drogensüchtige, die das besetzte Haus nie verlassen. Die Türen sind zerstört. Eine Aussparung gibt Einblick in den „Komfort“ des jämmerlichen, verlassenen Ortes. “Vorhänge“ an den Fenstern, ein Bett mit einer sauberen Decke, an der Wand ein Spiegel, ein hässlicher, kaputter Sessel.
Der Hausbesetzer hat zweifelsohne Ressourcen, es erinnert uns daran, dass zahlreiche von ihnen hart arbeiten, ganz besonders auf dem Gebiet der Wiederverwertung. Vor dem Weggehen legen wir einige Zigaretten und 50 Rubel auf den Nachttisch, der Preis für unseren Besuch ohne Einladung.

ТЕАТР
THEATER

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Ich lebe neben dem Theater Maly, das ich von meinem Fenster aus sehen kann. Ich habe ein Zimmer, ich kann es aber nicht alleine lassen, wenn jemand in der Wohnung ist, sagt Andrei Zelenin, Philolog, Übersetzer und Obdachloser.
Andrei Zelenin schlief vorher im Untergeschoss eines Gebäudes auf der Insel Vassiliewski. Und jetzt ist er hier, in diesem verlassenen Haus.
Es ist dort nicht kalt, selbst wenn der Wind manchmal unter dem Fenster durchbläst.
Ich kann mich neben der Batterie aufwärmen, wenn sie nicht ausgeschaltet ist. Ich gehe um ein oder zwei Uhr nachts schlafen und stehe um 06h50 auf, wenn die Letzten weggehen. Nachmittags gehe ich in die Bibliothek. Und wenn nachts niemand unterwegs ist, gehe ich auf den Strassen spazieren.
Die Leute behandeln mich wirklich gut. Einige nennen mich zum Spass „der Hausmeister“.
Vor zwanzig Jahren war das Theater Maly ein bedeutender Ort der Kunst, den die heutigen Stars nicht mehr kennen.

УСПЕХ
ERFOLG

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Wyascheslav Rasner ist möglicherweise der bekannteste Obdachlose von St. Petersburg.
Zumindest ist er einer der wenigen, dem es gelang, von der Strasse wegzukommen und ein normales Leben zu führen. Dieser Erfolg beruht nicht nur auf der Unterstützung und der grossen Hilfe durch fürsorgliche Leute, sondern auch auf seiner Lebensphilosophie.
“Um sich zu vergewissern, dass etwas gemacht werden kann, muss man es machen. Geschehe, was wolle“, sagt Wyascheslav Rasner.
Wyascheslav Rasner war eines der unzähligen Opfer eines Wohnungsbetruges.Er landete auf der Strasse und verbrachte sechs lange Winter auf einer stillgelegten Baustelle. Er lebte in einer Holzhütte ohne jegliche Fenster, wo die Innentemperatur gegen Null Grad sank.
Kinder, die im Gebiet spielen kamen, teilten mit ihm das Frühstück. Eine Nachbarin hat ihm einen selbstgenähten Schlafsack geschenkt.
“Ohne sie hätte ich nicht überlebt. Um wärmer zu haben, schlief ich mit meinen sechs Hunden. Leider wurden sie von den Halunken aber alle vergiftet.“
Während der letzten Jahre bat Wyascheslav Rasner bei der Metrostation Gorky um Almosen. Dort hat er einen von Touristen umringten Führer beobachtet und bemerkt, dass die Besucher gerne Geschichten über die Stadt hören. So hat er beschlossen, selbst Fremdenführer zu werden. Mit den wiedererlangten Identitätspapieren eröffnet Rasner eine Web-Seite über die Reize des Nevsky Prospekts.
Heute hat er über 1’000 Abonnenten. Der ehemalige Obdachlose wurde Fremdenführer.
“Ich stehe jeden Tag um sechs Uhr morgens auf und vertiefe mich in ein Geschichtsbuch über die Stadt, damit meine geführten Besichtigungen perfekt sind“.

ФАНАТ
FAN

_GAS_7446 Ф_фанатSergei, mit Übernahmen „Zenith“, lebt in der Nähe der Station Ligovo und damit zwei Schritte neben dem Ort, wo jede Nacht der Nachtbus seine warmen Mahlzeiten verteilt. Sergei’s Übername ist nicht unverdient. Er ist ein bedingunsloser Fan von Zenith, dem Fussballklub von St. Petersburg. Als Sergei arbeitete, spielte er mit der Firmenmannschaft und wurde sogar als bester Spieler ausgezeichnet.
Diese Leidenschaft datiert aus seiner Kindheit, lange vor dem Militärdienst.
Sergei zeigt auf seinem Oberarm stolz eine Tätowierung zu Ehren von Zenith und erzählt uns, dass er die Erfolge seines Teams den Schlagzeilen in den Zeitungen entnimmt. Und dass er natürlich ein glücklicher Mann ist, wenn Zenith gewinnt.
“Sie als Sieger zu wissen gibt mir jedesmal einen Kick und lässt mich ein wenig vergessen, dass ich seit drei Jahren auf der Strasse lebe.

ХОЛОД
KÄLTE

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Im Winter haben wir alle Angst, sagt uns Andrew, seit langem obdachlos. Niemand weiss, was ihn erwartet, an einem Tag gehen wir auf unseren beiden Beinen, am nächsten ist eines amputiert.
Das wäre mir beinahe passiert. Ich schlief ein, meine Finger und Füsse sind eingefroren. Glücklicherweise konnte ich sie retten, indem ich sie gegeneinander rieb.
Jetzt passe ich auf.
Warme Kleider finde ich bei der Heilsarmee, sogar dicke Socken. Das Problem sind die Schuhe, sie haben selten die richtige Grösse. Es gibt zum Glück am Sennaya Ploschad einen Schuhhändler, der ziemlich viel wegwirft.
Ich habe sogar solche mit kälteisolierenden Sohlen geangelt. Im Winter kann man bei McDonald’s unterkommen oder bei Burger King. Sie sind recht tolerant mit uns, solange wir nicht die Plätze der Kunden belegen.
Der letzte Winter war streng, glücklicherweise habe ich aber überlebt. Und ich konnte in den Überlebenszelten von Nochlezhka schlafen.

ЦЕННОСТИ
WERTSACHEN

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Für den Obdachlosen ist der Einkaufswagen eines Supermarktes etwas vom wichtigsten. Er ermöglicht es, darin allerart notwendige Gegenstände zu transportieren, die zum Überleben unabdingbar sind.
Nikolai gibt ihnen Autonamen, der aktuelle ist ein Mercedes, weil er unverwüstlich ist.
„Ich verwende ihn zum Einsammeln von Glas und Metall, um damit täglich einige hundert Rubel zu verdienen. Seit ich dieses Fahrzeug habe, ist mein Verdienst auf 300 Rubel (4.50 Franken) gestiegen.
Mein Mercedes transportiert leicht einen Doppelzentner (50kg). Einmal konnte ich sogar Ventilbaugruppen laden, die gut 170kg wogen.
Ich warne alle, die es auf meinen Mercedes abgesehen haben; ich bin bereit, jemanden zu töten, um ihn behalten zu können. Er ist mein Broterwerb“.

ЧЕЛОВЕК
MENSCH

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Bei einigen Menschen ist alles so vorbestimmt, dass sie unten auf der sozialen Leiter stehen. Basil Uwarihin könnte das perfekte Beispiel dazu sein. Und ob. Lassen wir ihn selbst seinen Parcours beschreiben.
„Seit meiner Kindheit habe ich einen sehr lebhaften Charakter. Vor Jahren haben wir mit Freunden beschlossen, eine Bank zu knacken. Während einer Woche haben wir den Ort beobachtet, die Abläufe studiert. Es hat nicht geklappt und ich habe 16 Jahre und 7 Monate erwischt.
Ich bin 2012 entlassen worden, ohne Ausweise, so wie das in Russland üblich ist. Einmal draussen, wurde mir schnell bewusst, dass ich mit meinem Curriculum nicht weit kommen werde. Bevor ich für eine Scheibenwischer-Firma gearbeitet habe, lebte ich auf der Strasse.
Selbst in dieser Situation habe ich stets auf mein Äusseres geachtet, aufgepasst, dass die Kleider sauber sind, dass ich rasiert, geduscht bin und anständig aussehe. Als ich mich einmal ins Spital begab, war das Pflegepersonal überrascht, dass ich ein Obdachloser bin. Ich erwecke nicht leicht Vertrauen. Wichtig ist: wenn ich sehe, dass ich nicht nach rechts gehen kann, dann gehe ich eben nach links, aber stets vorwärts.
Heute habe ich ein Dach über dem Kopf, eine Familie. Ich führe eine normale Existenz, während ich vorher während Tagen nichts ass.
Ich musste Rubel um Rubel zusammensparen, um durchzukommen. Ich erschien als Erster zur Arbeit und ging zuletzt nach Hause. Jetzt arbeite ich als technischer Vorgesetzter in einer Werkstatt, in der Gegenstände aus Birkenrinde entworfen und hergestellt werden. Hier habe ich meine heutige Frau kennengelernt“.

ЭЛЕКТРИЧКА
ZUG

GAS_8518

Lena Sidorenko lungert im Gebiet rund um den Bahnhof Obuchovo herum. Lena hält mit ihrer Meinung nicht zurück, weiss aber auch ein Lächeln als gefährliche Waffe einzusetzen.
Die Züge sind Lenas Spezialität. Lena vertritt gegenüber den Bahnverantwortlichen gewissermassen die Obdachlosen der Umgebung, welche die Wagen als Unterkunft oder manchmal zum Transport verwenden.
Lena sorgt dafür, dass ihre Schicksalsgefährten keine Skandale lostreten und damit durch die Kontrolleure geduldet werden. Sie passt auch darauf auf, dass es keine Unfälle gibt, dass niemand überfahren wird. Ja, auch Lena nimmt gerne den Zug, ein praktisches Transportmittel, um an schwierig erreichbare Orte zu gelangen.
In die Wälder, wo man im Sommer baden und die Kleider waschen kann. Oder im Herbst Beeren und Pilze findet.
Während der Obdachlose in der Eisenbahn mehr oder weniger toleriert wird, ist dies in den Bussen wegen seiner wenig ästhetischen Erscheinung oder fehlender Fahrausweise ganz anders.
Lena Sidorenko wird von einer kleinen Bande von zehn bis fünfzehn Personen begleitet. Sie kennen sämtliche Schliche, um zu reisen, ohne einen Kopeken auszugeben. Ihr Kriegsruf „Обогрев Горячая линия“ (Heat Hot Line) ertönt, sobald ein Schaffner in der Nähe ist.
Im allgemeinen hat das Bahnpersonal aber Verständnis für die illegal reisenden. Manchmal schenkt Lena den Angestellten Blumen oder Schockolade, um die Freundschaft zu erhalten.
Lena verbrachte 15 Jahre im Gefängnis. Nach der Freilassung schlug ihr von ihrer Familie nur Unverständnis und Feinseligkeit entgegen.
Ihr Bruder hat ihr das Recht auf das Miteigentum an der Familienwohnung verweigert und sie hinausgeworfen.
Ohne Papiere ist Lena auf der Strasse und heute eine treue Bekannte des Nachtbusses, der täglich in der Umgebung des Bahnhofs Obuchovo hält.

Я — БЕЗДОМНЫЙ
ICH – OBDACHLOS

_GAS_7677 Я_я бездомный

Igor Korolev: “Ich bin 55 jährig, seit zwei Jahren kämpfe ich auf der Strasse ums Überleben.
Ich war Elektriker, ein gut bezahlter Beruf. Ich wurde arbeitslos und meine Familie hat mich vor die Tür gestellt. Kürzlich habe ich meine Frau gekreuzt, sie führte einen kleinen weissen Pudel spazieren, sie hat kein Wort zu mir gesagt. Ich liebe die Fischerei, dank ihr schlage ich mich mit dem Essen durch. Dank der Fischerei fürchte ich die Kälte nicht wirklich, wieviele Male bin ich ins eisige Wasser gefallen, wie oft befand ich mich auf dem blanken Eis.
Kein Bedarf an Pillen gegen Erkältungen, ich habe keine. Ich fahre auch gerne Fahrrad, schaue schöne Mädchen an. Was ich den Leuten wünsche, ist gute Gesundheit und ein langes Leben“.

ПОСЛЕСЛОВИЕ
NACHWORT

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Julia Perewezentsewa, Spezialistin für Sozialarbeit und Freiwillige bei Nochlezhka seit sechs Jahren, legt uns ihren Standpunkt dar:
„In St. Petersburg ändert das Gesicht der Obdachlosigkeit.
Auf der Strasse findet man immer weniger herumhängende Kinder. Die Wirtschafts-Migranten sind in der Überzahl. Zahllose Jugendliche laufen untätig auf den Strassen der Stadt herum. Sie haben nichts gemeinsam mit den stereotypen Obdachlosen. Das Geschäft mit gepanschtem Vodka nimmt stark zu und unter den Infektionskrankheiten sind HIV und Hepatitis verbreitet.
Meiner Meinung nach hat sich seit der Zeit der Sowjetunion die Ansicht der russischen Bevölkerung bezüglich der Obdachlosigkeit nicht wirklich verändert.
Ihre Klischees gegenüber den Obdachlosen sind die gleichen geblieben. Für sie sind diese durchwegs selbst schuld, ohne Unschuldsvermutung. Für sie ist es egal, dass man ohne Propiska unmöglich wohnen und arbeiten kann, keine Pflege erhält oder sich nicht waschen kann.
Ohne im Besitz der Propiska zu sein, zieht auch im dritten Jahrtausend weiterhin sehr schwere Existenzprobleme mit sich. Glücklicherweise gibt es soziale Netzwerke und Nichtregierungs-Organisationen, welche den Obdachlosen ohne Ausweisen helfen.
Der Obdachlose ist gegenüber seinem Zustand passiv. Ein Verhalten, das sich durch seine schwere Depression als Folge der schwierigen Überlebensbedingungen erklärt.
Selbst wenn er einen Universitätstitel besitzt, wird das Ausfüllen eines Formulars zur Tortur. Die Lösung des Obdachlosen-Problems ist eine ausgesprochen politische Obliegenheit.
Und da dies die Politik nicht weiter kümmert, versuchen die Nichtregierungs-Organisationen für das Dringendste einzuspringen“, folgert Julia Perewezentsewa.