Erofeiev

300px-Victor_Erofeyev_by_Anton_Nossik_croppedIm Rahmen ihrer Treffen mit Persönlichkeiten, hat Nochlezhka dieses Mal den Schriftsteller und Literaturkritiker Viktor Wladirowitsch Erofeiev eingeladen.

 Im Jahr 1949 gründete Viktor Erofeiev die Literaturzeitschrift Metropol, an der grosse Namen der sowjetischen Literatur wie Wassilii Aksionov, Andrei Bitov und Bella Achmadulina mitarbeiteten.
Erofeiev wurde aus der Union der sowjetischen Schriftsteller ausgeschlossen. Bis 1988, als Michail Gorbatschov an die Macht kam, war er mit Publikationsverbot belegt.

Heute hat Viktor Erofeiev auf dem Kanal «Kultura» (Kultur) sein eigenes Programm. Auch auf dem Sender Radio Liberty in Moskau betreut er eine Sendung.

«Wohltätigkeit bedeutet Entwicklung der Gefühle. In einem Land der Papierflut ist dies speziell wichtig». V.E.

Nochlezhka: Die bei Nochlezhka einquartierten Sans-Papiers sind grösstenteils Opfer von Familienkonflikten, Immobilienbetrügen und Waisen, die kürzlich aus ihrem Heim entlassen wurden. Absurde Situationen in einem Land, in dem Identitätspapiere wichtiger sind als die Existenz des Menschen.
Was denken Sie davon?

Wladimirowitsch Erofeiev: Diese Frage ist einer Doktorats-These würdig. Wir haben stets ein bürokratisches, formalistisches System gehabt und sind nicht allein damit. In den andern Ländern werden die Bürokraten jedoch durch andere freie, unabhängige Instanzen kontrolliert.
Wenn sich jemand grundlos in einer solchen Situation befindet, hat er stets die Möglichkeit, sich an eine dritte, eine vierte Instanz zu wenden – und das Problem zu lösen. Bei uns bestehen aus historischen Gründen keine solchen Instrumente. Stattdessen herrscht bei den Behörden Willkür und Straffreiheit. Um dieses System zu zerstören, muss ein Rechtsstaat errichtet werden. Zwei Varianten sind möglich:
– Die erste Variante ist der lange Weg über die Erziehung, der uns erlauben würde, durch das Fernsehen und andere Medien ruhig und seriös die Werte des Rechtsstaates einzuflössen.
Die aktuelle Propaganda zeigt, dass das Fernsehen ein sehr effizientes Instrument ist, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Wenn man statt dieser wilden Propaganda Erziehung und Kultur senden würde, würden letztere ein Bestandteil unseres Lebens. Dies würde jedoch Jahrzehnte dauern.
– Die zweite Variante scheint mir realistischer. Wie wir wissen, haben sich seit Peter dem Grossen bestimmte russische Staatschefs dem Osten zugewandt, andere dem Westen.
Gegenwärtig liebäugelt unsere Regierung mit dem Osten, d.h. mit China und Indien. Wir haben also allen Grund zur Annahme, dass die nachfolgenden gegen Westen schauen werden. Das westliche System ist heutzutage jenes des Rechtstaates. Es besteht also die Möglichkeit, dass sich Russland auch diesem System annähert.

Das Fehlen des Rechts und die Unmöglichkeit, sein Recht geltend zu machen

N: Im Moment scheint uns das alles ein unrealisierbarer Traum.

V E: Die Situation, in der sich die Sans-Papiers befinden, ist in Russland nicht aussergewöhnlich, sie ist eher die Norm. Bei uns hat jeder „Anrecht“ auf das fehlende Recht und auf die Unmöglichkeit, sein Recht geltend zu machen. Wenn sich jemand in einer aussergewöhnlichen Situation befindet und das Wohlwollen der Behörden geniesst, hat er tausend, ja eine million Mal mehr Recht als die andern.
Ist jemand nur eine kleine graue Maus, ruhig und schweigsam, hat er zwar keinerlei Recht, man belästigt ihn aber nicht; falls er sich jedoch gegen das System auflehnt, kassiert er eine Ohrfeige. Wir haben hier alle Anzeichen eines harten und totalitären Regimes, das sich allem voran um seine Ideologie kümmert.
Zuallererst hatten wir eine autokratische Ideologie, anschliessend eine kommunistische; heute zeichnet sich eine neue Form ab, die nationalistische, obwohl sie noch nicht so heisst.
Sie unterdrückt jegliche Interpretation; aus diesem Grund wird das Vorhandensein oder Fehlen eines Papiers wichtiger als die Person. Der Mensch verliert seinen Wert.

N: Welches sind aus ihrer Sicht die günstigsten Bedingungen für die Entwicklung der Wohltätigkeit, der sozialen Initiative? Die Leute sind sich bewusst, dass der Staat diese nicht verbietet und sie nur auf sich selbst zählen können.

V E: Ich habe das Treffen mit Ihnen genau deshalb akteptiert, weil ich denke, dass die Wohltätigkeit und die Nächstenliebe ausserordentlich wichtig sind, vor allem in Ländern, welche keine Rechtskultur besitzen. Leute, die andern helfen, sind Gerechte, Helden.
Im Prinzip benötigt in diesem Land jedermann Hilfe. Je mehr Wohltätigkeit es gibt, desto grösser weden die Ausbildungsmöglichkeiten dafür sein. Wohltätigkeit bedeutet Entwicklung der Gefühle. In einem Land der Papierflut ist dies speziell wichtig.

Man muss gegen die Gleichgültigkeit ankämpfen

N: Und wie kann man andere lehren, Gefühle zu entwickeln? Wie das Gefühl wecken, dass die Aufmerksamkein für den andern normal ist, dass es nicht korrekt ist, dem Unheil des andern den Rücken zuzukehren?

V E: Diese Frage muss man zuallererst der Familie stellen.
Die Erziehung eines Kindes ist eine schwierige Arbeit und die Entwicklung seiner Seele eine ganz besondere Aufgabe, die  viel Aufmerksamkeit verlangt.
Ich hoffe auch, dass die Schule früher oder später am Wohltätigkeitssystem teilnehmen wird. Und da sind auch die Freunde und die geliebten Nächsten. Wenn man liebt, kann man auf dem Weg zur Entwicklung der Seele leicht Fortschritte machen. Die Liebe ist der beste Lehrer der Gefühle.

N: Was können Sie empfehlen bezüglich der Rolle der Bücher?

V E: Es gibt Bataillone, ganze Armeen von Büchern. Es liegt an jedem einzelnen, das geeignete zu finden. Generell gesagt ist die Kultur wie eine Impfung. Darin liegt auch seine Gefährlichkeit: sie stellt Fragen, auf die sie keine Antworten gibt. Sie kann uns in eine Sackgasse führen.
Beispielsweise Puschkin, Gogol, Tolstoi stellen genau diese Art von Fragen.
Wenn der Leser aber die Antworten findet, entwickelt die Kultur die Gefühle, es öffnen sich damit neue Horizonte. Die Lektüre eines  guten Buches ist wie die Begegnung mit sich selbst als Mensch. Es ist eine grosse Freude, sich als Mensch zu fühlen.

Man muss in Richtung des Flussufers schwimmen, das man nicht sieht

N: Aber die Leute lesen heutzutage doch nicht viel.

V E: Wir erleben einen Moment in der Entwicklung der Menschheit, in dem die menschliche Dummheit eine sehr wichtige Rolle spielt.
Das Fernsehen, die Comics, vieles im Zusammenhang mit den Freuden und den Vergnügungen entwickeln den Menschen nicht. Es ist nur Doping, welches das Glück ersetzt. Ich denke nicht, dass dies andauern wird.
Im Laufe der Geschichte hat sich der Mensch und gewisse Länder selbst in eine Sackgasse manövriert: wo findet man das antike Griechenland im Griechenland von heute? Die Leute sind anders, eine ganz andere Kultur. Es gibt aber Länder, die Dank der Kultur stark und herausragend geworden sind.
Die USA zum Beispiel waren lediglich ein Emigrationsland. Heute ist es nicht nur wirtschaftlich reich, sondern besitzt auch eine reiche Kultur.
Mir scheint, es ist nicht alles verloren. Es ist wie in einem Fluss, man muss in Richtung des Ufers schwimmen, welches man nicht sieht, das aber existiert. Man muss weiterschwimmen, um es zu erreichen. Und genau so ist die Lektüre, die Wohltätigkeit, die Liebe.

N: Sie haben 1999 die „Enzyklopädie der russischen Seele“ geschrieben. Sind Sie vom Geheimnis der russischen Seele nicht enttäuscht?

V E: Es gibt eine so riesige Menge von verschiedenen Seelen und Vorstellungen. Heutzutage ist die russische Seele lediglich eine spekulative Vorstellung.
Ganz sicher gibt es bestimmte ausschlaggebende Aspekte: die Nichteinhaltung der Gesetze, eine Ästhetik der Unordnung und der Skandale. Es gibt viel Brutalität in diesem Land.
Man kann festhalten, dass gemäss Aussage von Ausländern die Russen im 19. Jahrhundert sehr höfliche Leute waren. Wir verlieren gewisse Dinge, wir finden andere wieder.
Gegenwärtig ist das hauptsächliche Merkmal der russischen Seele die Isoliertheit und die Separation. Dies bedeutet nicht, dass die Leute alle gleich sein müssen. Es geht darum, den verschiedenen Standpunkten gegenüber tolerant zu sein.